Krebs & Einsamkeit – Alleine mit der Diagnose Krebs
Einsamkeit und Krebs gehen oft Hand in Hand – und beeinflussen Körper und Psyche gleichermassen. Dabei gibt es immer einen Weg heraus aus der Einsamkeit, sagt Nicole Berger Psychoonkologische Beraterin am Zentrum für Integrative Onkologie im Interview.
Frau Berger, laut Umfragen fühlt sich über 35 Prozent der Schweizer Bevölkerung manchmal bis sehr häufig einsam. Einsamkeit ist damit weit verbreitet – weshalb wird sie noch immer als stigmatisierend wahrgenommen?
Nicole Berger: Tatsächlich ist Einsamkeit nach wie vor ein Tabuthema, das zu einer Stigmatisierung der Betroffenen führt. Oftmals wird dieses Gefühl von Scham begleitet, und die Betroffenen haben den Eindruck, dass sie mit ihrer Einsamkeit allein sind. Während sich die einen einsam fühlen, weil ihnen tatsächlich niemand nahesteht, haben andere zwar ein Umfeld, welches jedoch nicht für sie da ist. Einsamkeit ist also ein subjektives Gefühl der Unverbundenheit, bei dem der Eindruck entsteht, dass die bestehenden Beziehungen und Kontakte nicht ausreichend sind.
Einsamkeit ist also nicht gleich Einsamkeit?
Berger: Es wird unterschieden zwischen emotionaler Einsamkeit, die entsteht, wenn erfüllende enge Beziehungen wie Partnerschaften fehlen, sozialer Einsamkeit, die auftritt, wenn persönliche Verbindungen zu Freunden oder Bekannten fehlen, sowie kollektiver Einsamkeit, bei der Menschen das Gefühl haben, die Zugehörigkeit zu größeren gesellschaftlichen Gruppen oder der Gesellschaft als Ganzes zu vermissen.
Und wodurch entsteht Einsamkeit bei einer Krebsdiagnose?
Berger: Die meisten Patient*innen begleitet die Einsamkeit schon vor der Krebsdiagnose, was dann durch den Prozess der Krankheitsbewältigung das Gefühl verstärken kann, sich einsam und verlassen zu fühlen. Zugleich können Faktoren wie Scham bezüglich des veränderten Aussehens als Krebspatient*in oder körperliche Einschränkungen wie Fatigue zu Einsamkeit führen. Viele Betroffene ziehen sich zurück, nehmen weniger aktiv am Sozialleben teil und verlieren ihre Tagesstruktur, etwa wenn sie arbeitsunfähig sind. Einsame Menschen leiden oftmals im Stillen für sich allein. Sie schämen sich für ihre fehlenden sozialen Kontakte und verleugnen oftmals ihre Einsamkeitsgefühle als Abwehrreaktion gegen den Schmerz der Einsamkeit.
Damit entsteht ein Teufelskreis aus Rückzug, Scham und Einsamkeit. Wie wirkt sich das auf den Körper und die Psyche der Betroffenen aus?
Berger: Oftmals besteht das Einsamkeitsempfinden über eine längere Zeitspanne und beeinträchtigt das physische und psychische Wohlbefinden massiv. Es kann krank und depressiv machen. Das Gefühl, verlassen zu sein und keinerlei Hilfe zu bekommen, verursacht eine existenzielle Stressbelastung. Interessanterweise wird körperlicher Schmerz und Einsamkeit in ein und derselben Region des Gehirns verarbeitet, wodurch einsame Patient*innen vermehrt Schmerzen verspüren.
Das Wort Einsamkeit ist eine Übersetzung des lateinischen Wortes «solitudo» was heisst, Allein- und Verlassensein.
Das heisst, Einsamkeit kann körperliche Symptome verursachen?
Berger: Auf der körperlichen Ebene kann sich Einsamkeit in Form von Appetitverlust, Gewichtsverlust, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Herzrasen, Schmerz oder Ruhelosigkeit zeigen. Auf der psychischen Ebene ist die Einsamkeit oft begleitet von Angst, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Depression, Langeweile, Interesselosigkeit, Selbstmitleid oder Sehnsucht nach einer anderen Person.
Für Aussenstehende ist es oft nicht einfach, Einsamkeit zu erkennen. Welche Hinweise können darauf hindeuten?
Berger: Einsame Patient*innen äußern ihre Gefühle der Einsamkeit oft indirekt durch ein sehr starkes Redebedürfnis. Sie neigen dazu, ohne Unterbrechung über verschiedene Themen zu erzählen. Zugleich deuten Aussagen wie «Es gibt Tage, da spreche ich mit niemandem.», «Es gibt Wochen, da treffe ich niemanden.», «Besuche habe ich selten.» und «Ich bin es gewohnt, alles alleine zu machen» auf Einsamkeit hin.
Welche Ursachen liegen der Einsamkeit zu Grunde?
Berger: Die existenzielle Einsamkeit hat ihren Ursprung in der Kindheit. Wenn das Kind die Anwesenheit und Anteilnahme der Erwachsenen vermisst, erlebt es das Gefühl von Isolation. Die Möglichkeit, allein gelassen zu werden, ist eine der grössten Ängste für ein Kind. Sie prägt sich tief in seine Seele ein und bewirkt für sein Leben ein gestörtes Urvertrauen, welches diesen Menschen das Alleinsein als schmerzhaft empfinden lässt.
Was können Krebspatient*innen selbst tun, um sich weniger einsam zu fühlen?
Berger: Das Überwinden von Einsamkeit und Isolation führt über den Weg des eigenen Selbst. Ich ermuntere die Patient*innen, den Mut zu fassen, alleine etwas zu unternehmen und nicht zu warten, bis jemand aus dem Umfeld Zeit hat. Es ist entscheidend zu lernen, Zeit mit sich selbst zu verbringen, die Ruhe und Stille dabei aushalten und geniessen zu können. Zugleich ist es wichtig, sich seiner Einsamkeit bewusst zu werden und diese zu fühlen. Das direkte Ansprechen der Einsamkeit in einem Gespräch kann für betroffene Menschen sehr erlösend sein.
Welche konkreten Tipps haben Sie für Betroffene?
- Über die Einsamkeit sprechen, sich mit den Gefühlen auseinandersetzen, sie integrieren und daran wachsen
- Austausch mit Betroffenen
- Sich öffnen für neue Begegnungen im Alltag
- Realen statt virtuellen Kontakt suchen
- Apps nutzen, um Menschen für gemeinsame Aktivitäten zu finden
- Aktiv sein und neue Unternehmungen beginnen
- Pro Senectute Programm «gemeinsam statt einsam»
- Krebsliga Angebote wie Begegnungszentren, Selbsthilfegruppen, Kurse
- Die Dargebotene Hand – Rund um die Uhr Telefon 143
- Plattform für Menschen, die sich einsam fühlen – www.soli-be.ch
Datum: 04.06.2024