Betroffenen Fatigue bei Krebs erzählt
Für alle
Nebenwirkungen

Leben mit chronischer Fatigue

Nadine (40) gewährt uns Einblicke in die düstersten Momente ihres Lebens nach dem Krebs: Wie die chronische Fatigue sie herausforderte und an ihre Grenzen brachte und wie sie das Licht am Ende des Tunnels gefunden hat.

Nadines  Geschichte

Als Nadine 35 Jahre alt war, wurde bei ihr Lungenkrebs diagnostiziert. Eine Krankheit, die sonst eher ältere Leute trifft. Nach der Diagnose ging es schnell: Nadine wurde die Hälfte ihres linken Lungenflügels operativ entfernt. Sie selbst ging sehr gefasst mit der Situation um, tröstete ihre Angehörigen und Freunde: «Ich sagte: he kein Problem, ich lass mich operieren, dann geht's in die Reha und in drei Monaten bin ich wieder da!» Weil der Tumor bereits aus der Lunge herausgewachsen war, musste Nadine nach der OP noch eine Chemotherapie machen. «Ich wusste, dass die Chemotherapie schlimm würde, aber es war die Hölle.» Nach Abschluss der Akuttherapien dachte Nadine, jetzt wird alles gut. Dem war nicht so: «Dass nach der Chemotherapie alles vorbei war, stellte sich als grösste Illusion meines Lebens heraus. Seit Abschluss der Therapie bin ich zwar krebsfrei, aber nicht gesund.»

Nadine ist Betroffene von Fatigue nach Krebs

Nadine musste lernen, mit der Fatigue zu leben.

Neben den anhaltenden OP-Schmerzen belastete Nadine eine Nachwirkung besonders: «Die Müdigkeit. Ich konnte einfach nicht aufstehen und machte mir deswegen grosse Vorwürfe: Was ist los mit dir? Du bist erst 35 und kommst nicht einmal aus dem Bett!» Was Nadine zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Das war keine normale Müdigkeit, sondern eine chronische Fatigue.

 

Mit der Fatigue kam die Depression

Bei einer Fatigue reicht Ausschlafen nicht, um die Müdigkeit loszuwerden. Weil Nadine im Vorfeld nicht informiert wurde, dass es diese Folgeerscheinung nach einer Krebsbehandlung gibt, zerbrach sie sich anfangs den Kopf: «Ich war schon immer ein fröhlicher Mensch. Doch schon in der Reha hatte ich diese wiederkehrenden Alpträume, war ständig tieftraurig.» Es war für alle naheliegend, dass Nadine an einer Depression litt und deshalb so müde und niedergeschlagen war. Dabei war es umgekehrt. Die Depression war eine Folge der Fatigue, weil Nadine nichts mehr machen konnte, was früher möglich war. Dies zu wissen, und einen Namen für ihren Zustand zu haben, war für Nadine enorm wichtig.

«Es gibt viele tolle Dinge auf der Welt, die ich auch mit Fatigue erleben kann, einfach anders. »

Nadine

Nach dieser Erkenntnis kam der nächste wichtige Schritt: Lernen mit der Krankheit umzugehen. Denn ein geregelter Alltag ist mit Fatigue nicht mehr möglich. «Pläne schmieden ist schwierig. Wenn die Fatigue überhandnimmt, höre ich nichts mehr – keinen Wecker, kein Telefon. Es kann dann sein, dass ich erst um zwei Uhr nachmittags erwache. Da hilft auch kein Schonen oder frühes Zubettgehen. Und so verpasse ich das Konzert, das Abendessen mit Freunden oder andere Dinge, die ich mir vorgenommen hatte. Damit musste ich lernen umzugehen», erklärt Nadine.

 

Hilfe annehmen

Mit Fatigue umgehen – das ist einfacher gesagt als getan – vor allem wenn es keine Aussicht auf Besserung gibt. «Ich habe heute eine gewisse Stabilität gefunden. Nicht, weil es besser geworden wäre, sondern weil ich besser damit klarkomme und es akzeptiert habe», so Nadine. Kraft gibt Nadine ihr gutes soziales Umfeld, das ihr immer bedingungslos zur Seite steht. Auch der Austausch mit anderen Krebspatient*innen, zu merken, dass es auch andere gibt, die dasselbe durchgemacht haben, hat ihr sehr geholfen. Nadine nimmt zudem psychoonkologische Unterstützung in Anspruch, um von den negativen Gedanken wegzukommen, die sie einholen, wenn die Einschränkungen der Fatigue überwiegen.

Erfahrungsbericht einer Betroffenen von Fatigue bei Krebs

«Ich fragte mich manchmal schon, ob es nicht besser gewesen wäre, zu sterben als so ein Leben führen zu müssen. Diese Frage stellte ich mir lange. Die Unfähigkeit und Hilflosigkeit, die ich in vielen Momenten erlebte, machten mich fertig. Hilfe annehmen müssen, aber auch zu sagen, ich bin dankbar für ein Leben, dass ich mir nicht ausgesucht habe, das war für mich sehr schwierig, aber zugleich enorm wichtig.» Nach vier Jahren hat Nadine Frieden mit ihrem Leben geschlossen: «Ich habe heute eine entspanntere Einstellung dazu. Das Materielle ist mir überhaupt nicht mehr wichtig. Es gibt viele tolle Dinge auf der Welt, die ich auch mit Fatigue erleben kann, einfach anders. Glück finde ich in den Momenten, in denen ich Zeit mit meinen Liebsten verbringe und schöne Erinnerungen schaffe. Darauf kommt es an.»

Catherina Bernaschina
Datum: 27.04.2023