Erfahrungsbericht Hirtumor - Anja auf der Treppe
Hirntumor
Erfahrungsbericht

Wenn nicht jetzt, wann dann?

«Wenn nicht jetzt, wann dann?» - dieses Motto begleitet Anja schon ihr Leben lang, heute hat es für sie eine noch viel tiefere Bedeutung bekommen. Hier erzählt sie ihre Geschichte.

Die Diagnose «solitär fibröser Hirntumor» im Dezember 2008 habe ich weder als Schock, noch als besonders einschneidendes Erlebnis in Erinnerung. Vielmehr nahm ich es recht gefasst, pragmatisch und mit einer gesunden Portion Optimismus. Schliesslich schien das «Ding» schon länger in meinem Kopf zu wuchern, ohne, dass ich etwas gemerkt hatte. Erst als ich immer häufiger Schwierigkeiten hatte, die Pedalen beim Fahrradfahren zu finden, klingelten meine Alarmglöckchen. Das Gesicht meines Arztes werde ich nie vergessen, als er mein MRI-Bild begutachtete und ein lautes «Gott sei Dank» ausstiess – mein Tumor konnte operiert werden; was für eine gute Nachricht. Die Schlechte: Mittlerweile wurde ich sechsmal operiert, mehrfach bestrahlt und habe als Folge der letzten Bestrahlung eine Gehbehinderung. Aber ich lebe! Auch wenn es mich jetzt nur noch mit Rollator gibt – meinem Brum Brum, wie ich ihn liebevoll nenne. Es würde mir jedenfalls nie in den Sinn kommen zu jammern, oder mit meinem Schicksal zu hadern – es ist wie es ist, Punkt. Viel wichtiger ist mir, was ich in den vergangenen 14 Jahren gelernt habe, welche Fehler ich gemacht habe und wie ich letztendlich an der Krankheit gewachsen bin. Deshalb möchte ich mit meiner Geschichte und meinen Erfahrungen anderen Betroffenen Mut machen. Die vergangenen Jahre sehe ich als ein Geschenk, was aber auch viel Mut und Courage gebraucht hat.

Erfahrungsbericht Hirtumor - Porträt von Anja

Heute geniesst Anja ihr Leben. Fotografin: Christina Weirich

Punkt 1: Hilfe annehmen muss gelernt sein

Spreche ich von Fehlern, denke ich an unser Gesundheitssystem, das die Auswirkungen meiner Erkrankung auf meine Familie völlig ausklammerte. Es drehte sich alles nur um mich. Wie belastet sie waren, welche Ängste und Unsicherheiten sie durchlebten und dass ein normales Familienleben so nicht mehr möglich war, wurde schlicht ignoriert. Meine Töchter waren zum Zeitpunkt der Diagnose Ein- und Dreijährig. Für meinen Mann war die Belastung riesig. Ich würde mir wünschen, dass es mehr (Entlastungs-)Angebote für Familien gibt, wo man gemeinsam Kraft tanken kann. Unterschätzt hatte ich auch, wie hoch die Belastung für mich ist. Wie ich bin, dachte ich, dass ich mit allem allein klarkommen muss, dass ich stark sein muss und mir ja nichts anmerken lassen darf. Was für ein Fehler. Eine solche Krankheit mit den ständigen Hochs und Tiefs zehrt an einem, da kann man noch so tough sein. Mir das einzugestehen war ein langer Prozess. Ich musste lernen, Schwäche zu zeigen. Was mir geholfen hat? Eine Kunsttherapie und die Einsicht, dass mir kein «Zacken aus der Krone» bricht, wenn ich um Hilfe bitte und sie auch annehme.

Ich musste auch lernen, mein Umfeld nicht zu unter-, aber auch nicht zu überfordern. So wollte ich etwa meine Töchter nicht überfordern und habe ihnen deshalb vorenthalten, dass ich wieder operiert werden muss. Natürlich hat meine Tochter per Zufall ein Arztgespräch mitgehört. Dieser Vertrauensbruch wurde mir sehr übelgenommen.  Mein Narbe anzuschauen, hat eine meiner Töchter allerdings überfordert. Hier eine Balance zu finden, ist nicht immer einfach.

 

Punkt 2: Traurigkeit zulassen, blöde Sprüche ignorieren

Blöde Sprüche wie: «Du musst nur ganz fest wollen, dann schaffst du das.» oder «Wenn du wirklich leben willst, dann klappt das auch.» sind weder hilfreich noch liebevoll. Sie bauen nur extremen Druck auf, denn im Umkehrschluss würde das heissen, dass ich nicht wirklich leben möchte, sonst würde ja der Tumor nicht immer wieder zurückkommen. Ich habe gelernt, Traurigkeit zuzulassen. Ich lebe und betraure nicht den derzeitigen Zustand. Aber ich traure über die Anja, die es nicht mehr gibt. Ich bin seit der letzten Bestrahlung geheingeschränkt und habe epileptische Anfälle. Die abenteuerlustige Anja, die angstfrei die Welt bereiste, gibt es aktuell nicht mehr. Das tut manchmal weh, etwa, wenn ich jemanden sehe, der mit Rucksack auf Reisen geht. Oft kamen dann Gedanken auf wie: Ich sitze allein im Boot und keiner versteht mich. Was natürlich totaler Blödsinn ist. Denn ich kann mein Umfeld lehren, was ich brauche und was ich nicht brauche. Das Umfeld mit ins Boot zu holen und offen und ehrlich zu kommunizieren, wie es mir geht, hilft allen Beteiligten.

Annehmen heisst nicht aufgeben, sondern das Beste daraus machen. 

Anja

Punkt 3: Das Leben in vollen Zügen geniessen

Ich geniesse das Leben und finde immer etwas, wofür ich dankbar bin. Annehmen heisst nicht aufgeben, sondern das Beste daraus machen. Heute gehe ich am Rollator. Das ist mühsam und schränkt nicht nur mich, sondern die Bewegungsfreiheit meiner ganzen Familie ein. Aber wir haben gelernt, kreativ nach Lösungen zu suchen. So kam es, dass mich beispielsweise mein Mann auf meinem Brum Brum sitzend durch Florenz geschoben hat, als ich einfach zu müde zum Laufen war. Ich akzeptiere meine momentanen Einschränkungen, habe dabei aber nicht die Hoffnung verloren, dass es wieder besser wird. Deshalb gehe ich dreimal die Woche in ein Bewegungstraining, mache Physiotherapie und vergesse dabei nicht mein seelisches Wohlsein. Mein Psychotherapeut unterstützt mich auf dem Weg. Das hilft mir.

 

«Wenn nicht jetzt, wann dann» - war das Motto für unsere Familienweltreise. 367 Tage waren mein Mann und ich mit unseren zwei Töchtern unterwegs. Damit habe ich mir einen riesigen Traum erfüllt. Und letzten Sommer sind meine Tochter und ich mit dem 9 Euro Ticket von München an die Ostsee gefahren. Auch da galt es, Hilfe anzunehmen, um mit meinem Rollator reisen zu können. Was für ein Abenteuer.  Ja, ich kann nicht mehr so reisen wie früher, deshalb suche ich immer wieder nach Herausforderungen, die ich mir selbst stelle, um meine Angst zu überwinden, um zu spüren, was mein Körper kann und was nicht. Diese Grenzen zu akzeptieren und dann liebevoll mit mir umzugehen, ist immer wieder ein Prozess.

 

Punkt 4: Patientenkompetenz: Mein Körper, mein Leben

Patientenkompetenz: Wir sind ein Team und ich bin die Chefin – ich gebe das Ziel vor, und die Ärzt*innen und Therapeut*innen sind mein Team und helfen mir, es zu erreichen. Ich bin keine Nummer. Ich bin keine Statistik. Ich bin kein: «Das haben wir schon immer so gemacht.», «Das ist unser Prozess.». Ich bin ein denkender und fühlender Mensch. Ich entscheide mit. Ich darf nein und ja sagen. Ich darf Fragen stellen. Ich darf mir eine Zweitmeinung einholen. Es ist mein Körper, mein Leben.

 

Und trotz allem: das Leben ist wunderschön. Auch meins.

 

Journalistin: Anna Birkenmeier
Datum: 16.01.2023