
Die letzte Lebensphase

Die letzte Lebensphase ist oft geprägt von besonderer Intensität. «Manchmal scheint mir das nahende Lebensende wie ein Brennglas, in dem sich existentielle Fragen bündeln», sagt die Palliativmedizinerin Dr. Karen Nestor.
Im fortgeschrittenen Stadium sind irgendwann alle Therapie-Möglichkeiten ausgeschöpft. Was bedeutet es für Betroffene, wenn «man nichts mehr machen kann»?
Dr. Karen Nestor: Ich bin keine Freundin der Formulierung «man kann nichts mehr machen». In der Regel soll damit ausgedrückt werden, dass die Möglichkeiten der kurativen Therapie ausgeschöpft sind. Aber man sollte als Ärzt*in immer den ganzen Menschen sehen, dann kann man immer etwas machen, etwas verbessern, selbst wenn Heilung nicht mehr möglich ist! Es gibt immer Möglichkeiten, die Lebensqualität zu verbessern und Leiden zu lindern – das ist der Schwerpunkt der palliativen Therapie.
Wie erleben Sie Patient*innen in der letzten Lebensphase?
Nestor: Menschen in der letzten Lebensphase beeindrucken mich immer wieder durch ihre besondere Ernsthaftigkeit, ihren Mut und die Intensität ihres Lebens. Wir alle können viel lernen von Menschen in der letzten Lebensphase: Sie setzen sich oft tief mit den zentralen Themen der menschlichen Existenz auseinander, mit der Bedeutung der Beziehungen zu den Nächsten, mit der Frage, was sie hinterlassen möchten und was sie ihren Nächsten mit auf den Weg geben möchten. Oft entsteht auch das Bedürfnis, noch bestehende Konflikte aufzulösen und zu einer Versöhnung mit den Mitmenschen und dem eigenen Leben zu finden.
Wie unterstützt Palliative Care die Betroffenen?
Nestor: Palliative Care unterstützt Patient*innen und ihre Angehörigen in ihren Bedürfnissen, in den Fragen und Problemen, bei denen Leidensdruck entsteht. Wir versuchen dabei immer, den Menschen ganzheitlich zu erfassen und ihm auf Augenhöhe zu begegnen. In der medizinischen Versorgung, wird eine Linderung der Symptome angestrebt: das können körperliche Symptome wie Schmerzen oder Atemnot sein, aber auch seelisches Leid wie Angst oder Verzweiflung. In den letzten Jahrzehnten wurden vielfältige Möglichkeiten entwickelt, Symptome zu lindern, sei es mit Medikamenten, pflegerisch oder auch durch Interventionen wie zum Beispiel Schmerzpumpen.
Für mich ist ein sehr respektvoller Umgang mit den Sterbenden wesentlich: sie gehen uns in dieser Erfahrung voraus.
Viele Menschen möchten eine Patientenverfügung erstellen, es fällt ihnen jedoch schwer, sich mit dem Szenario der Urteilsunfähigkeit zu konfrontieren. Weshalb ist eine Patientenverfügung so wichtig?
Nestor: Patientenverfügungen werden erstellt für den Fall, dass jemand urteilsunfähig wird. Damit wird sichergestellt, dass medizinische Entscheidungen im Sinne der Patient*in getroffen werden können. Die Patient*in legt auch fest, wer im Zustand der Urteilsunfähigkeit stellvertretend für sie entscheiden soll. Grundsätzlich kann jeder Mensch eine Patientenverfügung erstellen. Besonders empfohlen wird dies bei lebensbedrohlichen Erkrankungen. Es gibt heute in der Schweiz zahlreiche Vorlagen für Patientenverfügungen.
Welche weiteren formellen Dinge sollten Patient*innen erledigen?
Nestor: Mit einem Vorsorgeauftrag kann die Vertretung in Personen-, Vermögens-und Rechtsfragen festgelegt werden. Auch die Erstellung eines Testamentes empfiehlt sich.
Wie können Patient*innen mit der Angst vor dem Sterben umgehen?
Nestor: Patient*innen fühlen sich oft erleichtert, wenn sie ihre Ängste nicht mit sich selbst ausmachen müssen, sondern in eine Vertrauensbeziehung einbringen können. Vielfach lassen sich dann aus einem zunächst diffusen Angstgefühl konkrete Befürchtungen herausarbeiten: besteht Furcht vor bestimmten Symptomen wie Schmerzen oder Ersticken? Hat diese Furcht mit eigenen oder bei anderen miterlebten Krankheitserfahrungen zu tun? Besteht Furcht vor zunehmender Angewiesenheit oder Kontrollverlust? Oder betreffen die Sorgen Aufgaben im Leben, die noch nicht erledigt sind, oder ungelöste Konflikte?

Welche Rolle spielt das «darüber sprechen»?
Nestor: Das Gespräch darüber, wie sich diese Nöte lindern lassen, hilft vielen Menschen in ihrer Angst vor dem Sterben. Ebenso können Erkenntnisse aus der Sterbeforschung hilfreich sein. Auch wenn der letzte Schritt des Sterbens unserer Erfahrung nicht zugänglich ist, können wir Menschen auf ihrem Weg dahin zur Seite stehen. Dieses Versprechen, nicht allein gelassen zu werden, erleichtert viele Menschen. Für mich ist ein sehr respektvoller Umgang mit den Sterbenden wesentlich: sie gehen uns in dieser Erfahrung voraus.
Das soziale Umfeld spielt eine wesentliche Rolle für die Begleitung von Menschen am Lebensende. Was braucht es, damit die Betroffenen bis zum Schluss zu Hause bleiben können?
Nestor: Viele Menschen haben den Wunsch, daheim sterben zu können: dafür braucht es in der Regel ein gut ausgebautes Netzwerk aus Angehörigen, Professionellen und oft auch Freiwilligen. In den letzten Jahren sind ambulante Dienste für eine spezialisierte Palliative Care – sogenannte mobile Dienste – in der Schweiz auf- und ausgebaut worden zur Unterstützung der ärztlichen und pflegerischen Grundversorgung: damit wurden die Möglichkeiten einer guten Versorgung daheim verbessert und erleichtert.
Wie erleben Sie die Angehörigen während der letzten Lebensphase?
Nestor: Angehörige sind oft die wichtigsten Menschen für Patient*innen in der letzten Lebensphase. Ich bin immer wieder sehr beeindruckt, mit wieviel Engagement und Hingabe Menschen ihre Liebsten pflegen und begleiten. Dabei ist es ganz wichtig, dass sie sich Sorge tragen und nicht in eine Erschöpfung kommen. Oft fällt es zunächst schwer, bestimmte Aufgaben zum Beispiel in der Pflege abzugeben. Viele Angehörige erleben es dann aber als Erleichterung, wenn sie von Alltagsaufgaben entlastet sind und mehr innere Kapazitäten haben, einfach da zu sein. Unterstützende Angebote wie psychoonkologische und seelsorgerische Gespräche stehen übrigens auch Angehörigen zur Verfügung!
Datum: 24.10.2022