Lymphödem Erfahrungsbericht Nicole
Für alle
Erfahrungsbericht

«Psychisch war das Lymphödem schlimmer als der Krebs»

«Ein Lymphödem bleibt – jeden Tag, jede Minute»: Nicole hat den Gebärmutterhalskrebs überlebt. Doch was bleibt, ist eine chronische Erkrankung, die ihr Leben auf den Kopf stellte. Heute kämpft sie für mehr Aufklärung – und dafür, dass Betroffene sich nicht allein fühlen.

2021 war Nicole beruflich wie politisch auf dem Höhepunkt: Die Politikwissenschaftlerin aus dem Oberbaselbiet hatte gerade in Bern eine neue Führungsfunktion angetreten und wurde direkt bei ihrer ersten Kandidatur ins Stadtparlament gewählt. «Ich war auf dem Zenit meiner Schaffenskraft», sagt sie rückblickend.

Doch dann veränderte ein anhaltender Ausfluss alles. Es folgten Abklärungen – und schliesslich die Diagnose: Gebärmutterhalskrebs. Ein Primärtumor, der wohl seit Jahren in ihr wuchs. Trotz regelmässiger Vorsorge blieb er unentdeckt. «Es war einfach Pech und hat mir gezeigt, dass es die absolute Sicherheit nicht gibt», sagt Nicole.

 

Blanke Angst

Für Nicole stand plötzlich alles still, wie sie erzählt. «Ich hatte blanke Angst, es ging nur noch ums Überleben». Gleichzeitig sei da aber auch eine Erleichterung gewesen. «Mein Problem hatte endlich einen Namen». Die Ärzt *innen entschieden sich für die Entfernung der Gebärmutter. «Zum Glück hatte ich mich schon früh bewusst für ein kinderfreies Leben entschieden – so blieb mir eine zusätzliche emotionale Belastung erspart», betont Nicole. Die OP verlief gut, doch wurde Nicole eine sogenannte Sekundärtherapie mit Strahlen- und Chemotherapie empfohlen. Für die heute 43-Jährige war klar: «Ich wollte alles tun, damit ich mir später nicht vorwerfen muss, etwas ausgelassen zu haben.»

 

«Das Wort Lymphödem fiel – aber ich wusste nicht, was es bedeutet»

Mit den Therapien stieg auch das Risiko für bleibende Langzeitschäden. «Das Wort Lymphödem fiel immer mal wieder. Man sagte mir, es könne auch Jahre später noch auftreten – und sei unheilbar.» Doch wie sich ein Lymphödem konkret äussert oder was sie hätte vorbeugend tun können – darüber wurde sie kaum aufgeklärt. «Vielleicht hätte ich es damals auch gar nicht verkraftet. Man ist mit so vielen Herausforderungen konfrontiert – vieles geht einfach unter.»

Nicole kehrte nach der Therapie rasch ins Berufsleben und in den Alltag zurück. Bis sie vier Monate später plötzlich hohes Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit und rote Hautverfärbungen bekommt. Diagnose: Erysipel – eine potenziell gefährliche, bakterielle Infektion, häufig mit Lymphödemen verbunden.

Lymphödem Krebs Erfahrungsbericht

Nicole hilft der Austausch mit der Lymphödem Vereinigung Schweiz.

«Dann war es da und ich wusste: Das bleibt»

Wenige Tage später, unter der Dusche, wurde es plötzlich sichtbar: Das linke Bein war geschwollen – vom Oberschenkel bis zum Knöchel. «Da war mir klar: Das ist jetzt ein Lymphödem. Und das werde ich nicht mehr los», sagt Nicole.

Seitdem trägt sie rund um die Uhr Kompressionsstrümpfe und geht alle zwei Wochen zur manuellen Lymphdrainage. «Das Meiste musste ich mir selbst aneignen – sogar Physiotherapeut*innen schulen. Viele wissen kaum etwas über das Thema.» Fachleute für Lymphödeme? Fehlanzeige. «Auch Hausärzt* innen und Gynäkolog*innen sind oft wenig vertraut mit der Erkrankung.»

 

Lymphödem Vereinigung Schweiz

Besonders geholfen hat ihr der Austausch mit der Lymphödem Vereinigung Schweiz. «Anfangs fühlt man sich wie der einzige Mensch mit diesem Problem. Zu erleben, dass andere Ähnliches durchmachen, war sehr entlastend.» Was sie psychisch besonders fordert: «Gegen den Krebs kämpfte ich erfolgreich – den wurde ich wieder los. Das Lymphödem hingegen bleibt für immer. Es ist ständig präsent, jede Minute.» Die Erkrankung habe ihr Leben tiefgreifend verändert, betont sie. Auch ihre Ehe hat das nicht überstanden. «Nicht nur wegen des Lymphödems, aber es war ein Teil davon. Irgendwann musste ich mir eingestehen: Das alte Leben kommt nicht zurück.»

 

Selbstmanagement als Überlebensstrategie

Sie fand einen eigenen Weg, um mit der chronischen Erkrankung umzugehen. «Jedes Kilo zu viel belastet das Lymphsystem – also achte ich auf mein Gewicht. Ich ernähre mich antientzündlich: viel Eiweiss, wenig Kohlenhydrate und Zucker, kein Alkohol.»

Sport wurde zur wichtigsten Ressource: Rudern, Velofahren, Schwimmen, Krafttraining, eine Krebssportgruppe. Drei bis fünf Mal pro Woche bewegt sie sich – nicht nur für den Körper, auch für die Psyche. «Sport gibt mir meine Selbstwirksamkeit zurück.»

Vieles von dem, was sie heute über das Leben mit Lymphödem weiss, hat sie sich selbst beigebracht: über Social Media, YouTube und durch den Austausch mit Betroffenen im Ausland. «In Deutschland, Kanada oder den USA gibt es eine echte Selbstmanagementbewegung – das hat mir enorm geholfen und neue Perspektiven eröffnet.»

Was Nicole heute fordert, ist klar: mehr Bewusstsein für den Preis des Überlebens als Cancer Survivor und für chronische Spätfolgen wie Lymphödeme.

Ein Alltag zwischen Einschränkung und Selbstfürsorge

Heute ist vieles anders. «Ich brauche mehr Zeit für mich, gönne mir bewusst Ruhephasen.» Reiten im Unterengadin, Kaltbaden, gutes Essen, angenehme Düfte in der Wohnung – kleine Rituale, die ihr guttun. Auch psychologische Unterstützung war wichtig, um die letzten Jahre zu verarbeiten. «Erst in der Therapie wurde mir bewusst, in was für einem Albtraum ich gesteckt hatte.»

 

«Wir brauchen mehr Wissen – und mehr Sichtbarkeit»

Was Nicole heute fordert, ist klar: mehr Bewusstsein für den Preis des Überlebens als Cancer Survivor und für chronische Spätfolgen wie Lymphödeme – in Spitälern, bei Hausärzt*innen, in der Nachsorge. Ihr Rat an andere: Vernetzen, sichtbar machen, sich zeigen. «Ich gehe mit meinen Kompressionsstrümpfen inzwischen sogar in die Badi – das ist befreiend. Und ich bekomme fast nur positive Rückmeldungen. Es gibt inzwischen tolle Modelle in wechselnden Trendfarben – sogar mit Leopardenmuster.»

Und was möchte sie anderen mitgeben? «Holt euch Unterstützung, informiert euch – und lasst euch nicht entmutigen. Findet heraus, was euch wirklich guttut. Ihr seid nicht allein.» 

Weitere Informationen

Lymphödem Vereinigung Schweiz: www.lv-schweiz.ch

Nicole's zweites Leben als "lymphie.cervivor" auf Instagram: https://www.instagram.com/lymphie.cervivor/ 

Journalistin: Anna Birkenmeier
Datum: 15.04.2025