Warum Mitgefühl schwierig ist
Eine Krebserkrankung bringt für die Betroffene selbst und ihre Angehörigen komplexe, intensive und oft überfordernde Gefühle mit sich. Eine offene Kommunikation hilft bei der Verarbeitung und bildet die Grundlage, um den Betroffenen bestmöglich unterstützen zu können.
Denn: «Wir sind alle darauf angewiesen, dass wir unser Gefühlserleben ausdrücken und mitteilen, auch, damit wir uns unser eigenes Empfinden bewusst machen können», sagt der Philosoph Jan Müller im Interview.
Im Gespräch mit Jan Müller
Sie sind Philosoph und haben selbst eine nahe Bezugsperson an Krebs verloren. Hatten Sie durch Ihren beruflichen Hintergrund einen anderen Zugang zu den verschiedenen emotionalen Facetten, die eine Krebserkrankung mit sich bringt?
Jan Müller: Wenn man von einer lebensbedrohlichen Krankheit betroffen ist, macht das grosse Angst und kann sehr einsam machen. Man findet sich meist in einer ganz und gar neuen Situation wieder. Für die Erkrankten ist ihre Krankheit ein unglaublicher Einschnitt, den sie so noch nie erlebt haben. Viele schildern ihr Erleben als «aus der Welt herausgerissen-Sein», als einen tiefen Fall ins Unbekannte. Die Ohnmacht, das «Nichts-Tun-Können» und der Eindruck, der Situation ausgeliefert zu sein, wiegen schwer. Von einer Krebserkrankung ist aber nicht nur die Erkrankte selbst, sondern das gesamte Umfeld mehr oder weniger betroffen. Betroffen im Wortsinn – es trifft uns, wir sind davon berührt, emotional erfasst, fühlen und leiden mit, und müssen einen Umgang damit finden.
Vielleicht hat mein beruflicher Hintergrund mir dabei geholfen, weil er mir Worte und Unterscheidungen zur Verfügung stellt, um das auszudrücken. Und weil die Philosophie viele Beispiele dafür gibt, wie Menschen mit derartigen Betroffenheiten umgehen.
Viele Angehörige wissen oft gar nicht, wie sie mit dieser komplexen und intensiven Gefühlslage umgehen sollen. Wie erleben Sie das?
Jan Müller: Auch die Angehörigen sind in einer Situation, die ihnen zumeist unbekannt ist, mit der sie keine Erfahrung haben. Sie werden konfrontiert mit ganz verschiedenen, teils widersprüchlichen und oft unangenehmen Gefühlen - die überfordern, ängstigen und verunsichern können. Manche Betroffene distanzieren sich aus Hilflosigkeit sogar von den Erkrankten.
Die Erkrankung kann Abwehrgefühle auslösen?
Jan Müller: Ja. Man erschrickt sich über die schwere Diagnose, empfindet Unlust und Widerstände, sich damit auseinanderzusetzen. Man will nicht wahrhaben, was sie für das eigene und das gemeinsame Leben bedeutet, welche Hoffnungen und Träume dadurch verändert oder aufgegeben werden müssen. Das ist schmerzhaft, und es ist nur menschlich, dass wir manchmal mit Abwehr reagieren. Problematisch ist das, wenn die Unlust sich an der erkrankten Person entlädt. Wenn man sie unbewusst dafür verantwortlich macht, dass man sich mit schmerzhaften Themen auseinandersetzen muss. Man agiert dann nur aus seinen eigenen Bedürfnissen und Gefühlen, und sieht diejenigen des erkrankten Gegenübers kaum noch. Ähnliches passiert beim Mitleid.
Mitleid wird im Gegensatz zu Mitgefühl von den Betroffenen zumeist als negativ gewertet. Worin liegt der Unterschied?
Jan Müller: Mitgefühl ist grundsätzlich die Fähigkeit zu verstehen, was eine andere Person fühlt, wie es ihr geht. Und das nicht auf abstrakte, intellektuelle Weise, sondern: Man kennt das Gefühl und weiss, wie sich das anfühlt. Damit ich Mitgefühl mit einer Person haben kann, die Angst hat, muss ich zum Beispiel wissen, wie sich Angst anfühlt. Allerdings muss Mitgefühl nicht heissen, dass ich das Gefühl, welches ich bei meinem Gegenüber wahrnehme und das ich kenne, in der Situation auch wirklich selbst habe.
Das ist beim Mitleid anders, da gehe ich ganz mit und fühle z.B. selbst Angst. Aber die Angst, die ich mitleidend habe, ist eben meine eigene, und nicht die Angst der Betroffenen, mit der ich mitleide. Deshalb empfinden Betroffene Mitleid oft als unangenehm:
«Im Mitleid geht es eigentlich um die Person, die mitleidet, und kaum noch um die Person, mit der mitgelitten wird.»
Sie sagen: Wenn aus Mitgefühl Mitleid wird, wird es problematisch. Können Sie das konkretisieren?
Jan Müller: Wenn ich Mitgefühl zeige, dann signalisiere ich dem Gegenüber: Ich sehe was mit dir los ist, ich sehe zum Beispiel deine Verzweiflung und versuche, darauf gut zu reagieren. Ganz wichtig dabei ist: Ich sehe, dass es einen Unterschied zwischen deiner und meiner Verzweiflung gibt. Ich bin verzweifelt, weil ich sehe, dass du verzweifelt bist – und ich will nicht, dass du leidest, weil ich dich schätze.
Beim Mitleid passiert es leicht, dass dieser Unterschied verschwindet. Denn leide ich intensiv mit, dann bin ich natürlich ganz mit meinen eigenen, starken Gefühlen beschäftigt, und nehme mein Gegenüber in ihrer ganz eigenen Situation desto schlechter wahr. Vielleicht meine ich sogar, wir wären in genau derselben Lage – und das stimmt natürlich nicht.
Im besten Fall kann Mitgefühl die Bindung zum Betroffenen stärken. Und im Schlechtesten?
Jan Müller: Mitgefühl ist verbindend, wenn man merkt, dass man nicht alleine in der Situation ist und spürt, dass man wohlwollend gesehen und geliebt wird. Allerdings kann Mitgefühl auch Druck, Scham oder sogar Schuldgefühle bei der betroffenen Person auslösen – wenn sie das Gefühl hat, für das Leid und die Trauer von Anderen verantwortlich zu sein, oder weil sie im Spiegel des Mitgefühls ihre eigene Hilflosigkeit auf eine Weise sieht, die sie überfordert. In solchen Situationen kann Mitgefühl auch Gefühle von Einsamkeit und Isolation bewirken. Ganz schlimm ist es, wenn Erkrankte das Gefühl haben, sie würden für die Hilflosigkeit ihres Umfelds verantwortlich gemacht.
Die Vermittlung von Mitgefühl hängt stark von der Kommunikation ab. Warum ist das so?
Jan Müller: Man muss eine Form finden, um Mitgefühl auszudrücken. Wir sind alle darauf angewiesen, dass wir unser Gefühlserleben ausdrücken und mitteilen, auch, damit wir uns unser eigenes Empfinden bewusst machen können. Wie man das richtig macht – dafür gibt es leider kein Rezept und keine Regeln. Mitgefühl kann durch Gesten und Haltungen vermittelt werden. Wir können es explizit machen, indem wir unserem Gegenüber sagen und signalisieren: Ich nehme deine Perspektive wahr.
Der Betroffenen respekt- und taktvoll begegnen, ihre Perspektive einnehmen und sie offen fragen, was sie braucht und was ihr wohl tut, ihr aber auch mitteilen, was die Lage in uns selbst auslöst – das sind sicherlich wichtige Grundsätze. Ein gut kommuniziertes Mitgefühl signalisiert: «Ich bin selber betroffen, aber es geht mir um dich.» Viele Betroffene wünschen sich eine offene Kommunikation.
Wie können Angehörige sicherstellen, dass sie empathisch sind, ohne dabei die Kommunikationsmuster der erkrankten Person verändern zu wollen?
Jan Müller: Das ist eine Herausforderung, weil alle Betroffenen ja unter grossem emotionalem Druck stehen. Angehörige können zum Beispiel auf ihre eigenen Gefühlsreaktionen achten, damit sie ihre Betroffenheit nicht aus Versehen der erkrankten Person zuschieben. «Du machst mir weh, wenn Du mir nichts erzählst» – das kann sich wie eine Erpressung anfühlen. Man könnte stattdessen sagen «Wenn du mir nichts erzählst, dann verstehe ich deine Situation schlechter, und das macht mir weh, weil ich sie gern mit dir zusammen erleben möchte». Das zeigt: Ich nehme dich ernst und achte deine Autonomie. Zu solcher Achtung gehört aber auch, dass dem Gegenüber unsere eigenen Bedürfnisse zeigen. So können wir uns gegenseitig Raum geben, und das verringert auch die Gefahr, dass wir unser Gegenüber – zumeist ja aus Überforderung und zum Selbstschutz – zu verändern versuchen.
Zum Schluss: Kann das starke Gefühlsempfinden, wie es Betroffene und Angehörige während einer Krebserkrankung erleben, auch positive Aspekte haben?
Jan Müller: Ja, unbedingt! Jede intensive Lebenslage verändert uns ja, und verändert damit auch, wie wir in Beziehung zu einander treten können. Betroffene beschreiben oft, die Krankheitserfahrung verschiebe, was sie eigentlich wichtig finden. Dass sie klarer spüren, was ihr authentisches Bedürfnis ist, oder sich für manches nicht mehr schämen. Das hat auch etwas Befreiendes. Auch eine so schreckliche Erfahrung wie eine Krebserkrankung birgt also die Gelegenheit, dass wir uns noch besser kennenlernen – uns selbst und unser Gegenüber. Wie wir mit der eigenen oder der Erkrankung einer lieben Person umgehen mögen; wie wir schlimmstenfalls die verbleibende Lebenszeit gemeinsam gestalten wollen; wie und worum wir miteinander trauern – das können Anlässe für ausgesprochen innige, vertrauensvolle und glückliche Beziehungserlebnisse sein.
Datum: 11.04.2024