Mann mit Prostatakrebs
Prostatakrebs
Patientenkompetenz

«Ich will den Betroff­enen den Druck nehmen, dass sie immer positiv sein müssen!»

Dr. Delahaye Experte für psychischen Umgang mit Prostatakrebs

Dr. phil. Marcel Delahaye
Psychologe
Unispital Basel

Männer können dazu neigen, ihre Prostatakrebserkrankung emotional verdrängen zu wollen. Das funktioniert in aller Regel nicht und es braucht die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen. «Wie diese Auseinandersetzung aussieht, ist allerdings ein individueller Prozess», betont der Psychologe Marcel Delahaye im Interview.

Dr. Delahaye, welchen emotionalen Herausforderungen können Prostatakrebsbetroffene begegnen?

Dr. phil. Marcel Delahaye: Wie bei allen Krebserkrankungen steht auch beim Prostatakarzinom primär die Angst vor dem Unbekannten im Fokus: ‹Was kommt auf mich zu?› und ‹wie wird sich mein Leben verändern?› Die Betroffenen beschäftigen sich mit ihrer Endlichkeit und erleben eine existenziell bedrohliche Situation.

 

Inkontinenz, Erektionsproblemen und eine veränderte Sexualität sind mögliche Nebenwirkungen einer Prostatakrebs-Behandlung. Wie kann die Angst davor bewältigt werden?

Delahaye: Die Betroffenen sehen oftmals eine schwarze Wand, die auf sie zurollt, mit allen möglichen ‹worst case› Szenarien. Ich rate den Betroffenen, ihre Ängste in Worte zu fassen und sich bewusst zu werden, welches ihre verschiedenen Ängste sind. Indem sie sich damit auseinandersetzen, können mehr Handlungsoptionen generiert und ein Prozess in Gang gesetzt werden. Bezüglich der potentiellen Nebenwirkungen gilt es, dies mit dem Urologen zu thematisieren. Aus Angst entsteht häufig die Tendenz, sich nicht damit zu befassen. Ich rate aber allen Patienten grundsätzlich, dass Sie etwas über ihre Erkrankung wissen müssen, um Entscheidungen zu treffen.

«Männer neigen manchmal dazu, die Erkrankung emotional verdrängen zu wollen.»

Dr. Delahaye

Welche Rolle spielen Angst und Unsicherheit bei der Diagnose und Behandlung von Prostatakrebs?

Delahaye: Männer neigen manchmal dazu, die Erkrankung emotional verdrängen zu wollen. Das funktioniert in aller Regel nicht und es braucht die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen. Zwangsoptimismus halte ich auch für schwierig, insbesondere wenn dieser vom Umfeld kommt. Indem man immer wieder gesagt bekommt, dass man positiv denken muss, um den Krebs zu besiegen, kann ein unglaublicher Druck entstehen. Es gibt keine wissenschaftlichen Studien, die besagen, dass Optimismus die Heilungsaussichten verbessert. Es bleibt daher wissenschaftlich offen, welche innere Haltung die «richtige» ist. Weder der Aufbau einer – ich nenne es mal – «buddistischen Gelassenheit» noch einer sog. Boxermentalität («Fighting Spirit») muss mit allen Mitteln erreicht werden, um zu genesen. Es geht darum, den eigenen Weg zu finden und einem Entwicklungsprozess zu vertrauen.

 

Welche Strategien können die betroffenen Männer anwenden, um mit ihren Gefühlen umzugehen?

Delahaye: Ganz zentral sind neben Momenten der Stille, die anschliessende Ermutigung, über Gefühle zu sprechen. Hier kommt dem Urologen als Erstbehandler eine wichtige Rolle zu: Indem er proaktiv psychische Herausforderungen anspricht, können Männer sich öffnen. Man sollte den Ohnmachtsgefühlen Raum geben und erfahren, dass «Mann» auch schon mal schwach sein darf. Welche Strategien im Einzelfall helfen ist sehr individuell. Es gelingt in den meisten Fällen nicht, in dem ich zu Hause die weisse Wand anschauen und darauf warte, meinen inneren Frieden zu finden. Wer etwas über sich emotional entfernen möchte, kann das grob gesagt auf drei Ebenen.

Psychischer Umgang mit Prostatakrebs weniger Druck

Können Sie näher auf diese drei Bewältigungs-Ebenen eingehen?
Eine Erste sind Natur und Kultur: sich alleine in die Natur begeben - je tiefer in den Wald umso besser - und nach einer Verbindung suchen. Nach einem Spaziergang sind Ängste häufig nicht mehr so stark oder diffus wie vorher. Auf diese Ebene gehören auch kulturelle Elemente: man kann sich fragen, warum einen gerade dieses Musikstück oder jenes Bild besonders berührt. Auch Dichtungen ist eine hervorragende Möglichkeit, Gefühle zu erfahren. Eine zweite Ebene sind unsere menschlichen Beziehungen: Ich erfahre etwas über mich, indem ich überlege, wie Menschen auf mich wirken und wie ich auf andere wirke. Eine 3. wichtige Ebene ist die spirituelle: es hilft gegen die eigene Angst, eine Vorstellung von dem zu entwickeln, wie es mit mir weitergehen könnte und was mich letztlich trägt. Das wichtigste ist, darauf zu vertrauen dass ein Prozess in Gang kommt. Ziel ist es das ich lerne, darauf zu vertrauen, dass ich alles in mir trage, um den vor mir liegenden Weg zu beschreiten. Ein innerer Austausch mit diesen drei Ebenen kann dabei helfen.

 

Welche Tipps haben Sie, um eine positive Einstellung zu fördern?

Delahaye: Ich will es noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Ein psychischer Entwicklungsprozess beginnt meist nicht mit hoffnungsvollen, positiven Gedanken. Die Psyche braucht ihre eigene Zeit. Gras wächst nicht schneller, wenn man daran reisst. So ist es auch mit psychischen Prozessen, denen ich Raum geben muss. Die eine richtige positive Einstellung gibt es nicht. In der Psychoonkologie begegnete mir einmal folgender Satz: Jeder Mensch hat zwei Leben – das zweite beginnt, wenn man realisiert, dass man nur eines hat.

«Krebs macht immer auch einsam – auch wenn man ein riesiges familiäres und soziales Netz hat.»

Dr. Delahaye

Angehörige spielen eine wichtige Rolle im Unterstützungsnetzwerk von Krebspatienten. Was können sie tun, um dem Patienten bei der psychischen Bewältigung der Krankheit zu helfen?

Delahaye: Angehörige können für einen Krebspatienten unterstützend, aber auch belastend sein. Die Erwartungen und Wünsche zu thematisieren, ist deshalb zentral. Viele betroffene Männer möchten vor den Angehörigen stark sein und sich zusammenreissen – auch das rate ich zu thematisieren und Zeit für sich alleine zu suchen.

 

Einige Männer könnten zögern, über ihre Ängste und Sorgen bezüglich ihrer Prostatakrebs-Diagnose zu sprechen. Wie können sie diese Hemmschwelle überwinden?

Delahaye: Krebs macht immer auch einsam – auch wenn man ein riesiges familiäres und soziales Netz hat. Nun ist man derjenige, den es erwischt hat. Es braucht Mut, die eigene Hilfsbedürftigkeit zu adressieren. Viele Patienten berichteten mir aber, dass sie den offenen Umgang nicht bereut haben. Wichtig ist, dass man Männer ermutigt und keinesfalls unter Druck setzt, im Sinne von: ‹Du musst jetzt darüber sprechen›. Das wird nicht funktionieren.

 

Die Verarbeitung der eigenen Sterblichkeit kann eine herausfordernde psychische Hürde bei einer Krebsdiagnose sein. Wie können Betroffene damit umgehen?

Delahaye: Oh jeh, das ist die schwierigste Frage, die sich nur schwer, kurz beantworten lässt. Wahrscheinlich hofft jeder innerlich, dass er der erste sein wird, der nicht stirbt. Irgendwann wird einem dann aber die Unausweichlichkeit der eigenen Endlichkeit auch emotional bewusst. Am Ende eines Lebens sind aus meiner Sicht zwei Fragen entscheidend. Erstens: «Habe ich jemals geliebt?» und zweitens: «Bin ich jemals geliebt worden?» Ich finde mit diesen beiden Fragen kann man sich schon eine ganze Weile beschäftigen

Anna Birkenmeier
Datum: 26.10.2023