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Stigmatisierung

Unsichtbare Kämpfe: Vor­urteile und deren Aus­wir­kungen auf Krebs­betroffene

Vorurteile bei Krebs Experte Jan Schulze

Dr. med. Jan Schulze
Oberarzt
Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik
Unispital Zürich

Menschen mit Krebs werden auch heute noch häufig mit Vorurteilen, Fehlinformationen oder Stigmas konfrontiert. Das hat nicht nur Einfluss auf die Lebensqualität von Betroffenen, sondern erschwert in vielen Fällen auch den Kampf gegen die Krankheit.

Dr. Jan Schulze, welche Vorurteile gibt es bei Krebs und wie entstehen sie?

Dr. Jan Schulze: Die meisten Vorurteile entstehen durch fehlendes Wissen. Bis in die 80er Jahre hinein verstarben leider zwei Drittel der von Krebs betroffenen Menschen nach der Diagnose. Zum Glück hat sich die Situation mittlerweile verbessert, heute können über 50 % der Betroffenen geheilt werden. Trotz dieser positiven Entwicklung bleibt Krebs jedoch immer noch stark von dem Vorurteil geprägt, dass man ohnehin nichts mehr dagegen tun kann. Darüber hinaus variieren die Vorurteile stark, je nachdem, von welcher Art von Krebs jemand betroffen ist. Dies kann einerseits von äusseren Merkmalen abhängen, ob der Krebs sichtbar ist oder nicht. Andererseits spielen auch Schuldzuweisungen eine Rolle – ob die Erkrankung als selbst verschuldet oder nicht selbst verschuldet angesehen wird.

 

Vom Vorurteil «selber schuld» sind vor allem Menschen mit Lungenkrebs betroffen. Wie äussert sich das?

Schulze: Ihnen wird vorgeworfen, durch das Rauchen ihre Erkrankung selbst verursacht zu haben. Aber nicht alle Lungenkrebs-Betroffenen sind oder waren Raucher. Gerade das nicht-kleinzellige Lungenkarzinom ist nicht mit Rauchen assoziiert. Ausserdem unterschätzen viele Menschen die Tatsache, dass Rauchen eine Sucht ist und dass es sehr schwierig ist, damit aufzuhören. Viele Betroffene machen sich selbst Vorwürfe und verinnerlichen die Vorurteile, die sie in der Gesellschaft wahrnehmen. Das kann schlimme Folgen haben. Wer Schuld-oder Schamgefühle hat, zögert eine Untersuchung vielleicht eher hinaus oder nimmt sie gar nicht wahr. Dies kann zu einer verspäteten Diagnosestellung führen.

 

Von welchen Vorurteilen sehen sich Betroffene von Eierstockkrebs oder Krebs im Intimbereich konfrontiert?

Schulze: Diese Organe symbolisieren eine starke Verbindung zur Fruchtbarkeit und werden daher beinahe wie Heiligtümer verehrt. Wenn jemand in diesem Bereich von einer Krankheit betroffen ist, sieht er sich oft schnell mit Vorurteilen konfrontiert, die auf ungeschütztem Sexualverkehr, häufigem Partnerwechsel oder mangelnder Hygiene basieren. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Vorurteile natürlich vollkommen falsch und unbegründet sind.

 

Wie verhält es sich bei Betroffenen von chronischem Blutkrebs?

Schulze: Hier entstehen Vorurteile daraus, dass man ihnen die Krankheit von aussen nicht ansieht. Da heisst es schnell einmal, dass die Krankheit nicht ernst oder nicht echt ist, dass die Betroffenen nur simulieren und Aufmerksamkeit suchen oder dass sie faul und unmotiviert sind. Manche Betroffene sind dann beinahe froh, wenn eine Chemotherapie nötig ist und die Krankheit durch den Haarausfall nach aussen sichtbar wird.

 

Viele Betroffene erleben Schuld- und Schamgefühle. Es kann zu sozialem Rückzug kommen, zu weniger Kommunikation mit dem Umfeld und mehr Stress.

Dr. Jan Schulze

Welche Auswirkungen haben Vorurteile auf das Leben von Betroffenen?

Schulze: Viele Betroffene erleben Schuld- und Schamgefühle. Es kann zu sozialem Rückzug kommen, zu weniger Kommunikation mit dem Umfeld und mehr Stress. All diese Faktoren beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich. Dazu muss man auch bedenken, dass es sich um Menschen handelt, die bereits durch die Erkrankung selbst belastet sind. Wenn nun auch noch der Druck von aussen hinzukommt, wird es noch schwieriger, einen guten Umgang mit der Krankheit zu finden.

 

Welchen Einfluss haben Vorurteile auf den Krankheitsverlauf?

Schulze: Vorurteile können sich negativ auf die sogenannte Therapietreue auswirken und dies in verschiedener Weise. Ein Beispiel ist, wenn Betroffene ihre Krankheit aus Angst vor negativen Reaktionen verbergen. Dadurch halten sie möglicherweise auch ihre Behandlung oder Medikamenteneinnahme geheim und führen sie nicht so regelmässig durch. Die Betroffenen könnten sich selbst die Schuld für ihre Erkrankung geben oder ein Minderwertigkeitsgefühl entwickeln. Diese negativen Emotionen könnten dazu führen, dass sie die Therapie als eine Art Bestrafung empfinden und ihre Motivation zur Therapietreue abnimmt.

 

Wie kann man mit Vorurteilen umgehen?

Schulze: Leider führt kein Weg daran vorbei, das Umfeld über die Krankheit aufzuklären und Informationen zu teilen. Oft hilft es, die Herausforderungen, die mit der Krankheit einhergehen, offenzulegen, um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Ein weiterer Ansatz könnte sein, über die eigenen Emotionen zu sprechen und konkret zu äussern, wie verärgert oder traurig man über die Vorurteile ist. Indem man sich so öffnet, kann dies zu mehr Empathie und Verständnis seitens des Umfelds führen. Es ist jedoch auch wichtig, klare Grenzen zu setzen. Bei respektlosem Verhalten oder unsensiblen Kommentaren darf man deutlich machen, dass dies nicht akzeptabel ist. In solchen Situationen können andere Betroffene oder Selbsthilfegruppen Unterstützung bieten, um gemeinsam mit der Herausforderung umzugehen. Indem wir uns gegenseitig unterstützen und offen kommunizieren, können wir Vorurteilen ent-gegentreten und ein besseres Verständnis füreinander schaffen.

Podcast-Staffel "Vorurteile" 

Mehr Informationen und Erfahrungsberichte zum Umgang mit Vorurteilen findest du in unserem Podcast. 

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Journalistin: Nadine Gantner
Datum: 16.10.2023