Vorurteile bei Chemotherapie sind weit verbreitet. wir räumen auf.
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Chemo­therapie: Wir räumen auf mit Vorur­teilen

Expertin für Chemotherapie bei Krebs vom Unispital Basel

Prof. Dr. Mascha Binder
Klinikleiterin und Chefärztin Onkologie
Universitätsspital Basel

Der Chemotherapie eilen eine Vielzahl an Vorurteilen und Halbwissen voraus. Wir haben dazu mit der Onkologin Mascha Binder gesprochen und klären die gängigsten Fragen.

Die Chemotherapie

Prof. Binder, was passiert im Körper während einer Chemotherapie?

Prof. Binder: Die Chemotherapie ist eine medizinische Behandlung, bei der spezielle Medikamente eingesetzt werden, um Krebszellen zu zerstören oder ihr Wachstum zu stoppen. Diese Medikamente beeinflussen jedoch nicht nur Krebszellen, sondern können auch gesunde Zellen beeinträchtigen, die sich schnell teilen, wie die Zellen im Knochenmark, im Verdauungstrakt und im Haarfollikel. Dies ist der Grund für viele der Nebenwirkungen, die mit der Chemotherapie verbunden sind, wie Haarausfall, Übelkeit und Schwäche.

 

Wie hilft die Behandlung dabei, Krebszellen zu bekämpfen?

Binder: Es gibt unterschiedliche Mechanismen, über welche Chemotherapien wirken. Der wichtigste ist sicherlich die Hemmung der Zellteilung. Darüber können Chemotherapien aber auch die Tumorzellen für Immunzellen sichtbarer machen. Dies kann dazu führen, dass das Immunsystem Krebszellen erkennen und angreifen kann.

 

Es gibt sehr viele Vorurteile und Halbwissen rund um die Chemotherapie. Mit den folgenden Fragen möchten wir die gängigsten Fehlannahmen klären:

Viele gehen davon aus, dass die Chemotherapie immer per Infusion erfolgt. Stimmt das?

Binder: Ja, viele Menschen denken, dass Chemotherapie ausschliesslich über Infusionen verabreicht wird, aber tatsächlich gibt es auch Tablettenformen von Chemotherapie-Medikamenten. Die Tabletten werden von den Patient*innen oral eingenommen, ähnlich wie andere Medikamente. Dies ermöglicht den Patient*innen, die Medikamente zu Hause einzunehmen, ohne in eine medizinische Einrichtung gehen zu müssen.

Das ist sicherlich ein starkes Argument für die Therapie in Tablettenform. Für wen ist eine solche geeignet?

Die Möglichkeit, Chemotherapie in Tablettenform einzunehmen, bietet den Patient*innen mehr Flexibilität und Kontrolle über ihre Behandlungszeiten. Dies kann die Lebensqualität während der Behandlung verbessern. Trotz der Vorteile erfordert orale Chemotherapie eine gewisse Eigenverantwortung der Patient*innen. Sie müssen sicherstellen, dass sie die Tabletten gemäss den Anweisungen einnehmen und eventuelle Nebenwirkungen ihrem medizinischen Team mitteilen. Die Entscheidung für eine bestimmte Verabreichungsform der Chemotherapie hängt von vielen Faktoren ab, z.B. dem Krebstyp, Krankheitsstadium und Patientenwunsch.

Vorurteile und Halbwissen bei Chemotherapie aufgeräumt

Viele Menschen denken, dass Chemotherapie immer mit starken Nebenwirkungen verbunden ist. Könnten Sie uns erklären, wie sich die Nebenwirkungen in den letzten Jahren verändert haben?

Binder: Ja, das ist eine weitverbreitete Annahme. Allerdings haben sich im Laufe der Zeit sowohl die Behandlungsmethoden als auch das Management von Nebenwirkungen in der Chemotherapie erheblich weiterentwickelt. Innovative Methoden haben ermöglicht, die Medikamente gezielter an den Ort des Tumors zu bringen und umliegendes gesundes Gewebe weniger zu beeinträchtigen.

 

Wie sieht es bei Kombinationstherapien aus?

Kombinationstherapien, z.B. Chemotherapie in Kombination mit der Bestrahlung oder anderen Medikamenten, ermöglichen es, geringere Dosen einzusetzen, was sich günstig auf die Nebenwirkungen auswirken kann. Moderne Anti-Übelkeits-Medikamente können die mit der Chemotherapie verbundenen Übelkeit und Erbrechen effektiv kontrollieren, was die Lebensqualität der Patient*innen während der Behandlung verbessert. Insgesamt haben diese Fortschritte dazu beigetragen, die Belastungen für die Betroffenen zu verringern. Dennoch ist es wichtig zu beachten, dass die individuelle Verträglichkeit von Person zu Person variieren kann, und eine enge Zusammenarbeit mit dem medizinischen Team entscheidend ist, um die bestmögliche Behandlung zu gewährleisten.

 

Ein häufiges Vorurteil ist, dass Chemotherapie immer Haarausfall verursacht. Ist das wirklich der Fall?

Binder: Es stimmt, dass Haarausfall oft mit Chemotherapie in Verbindung gebracht wird, aber nicht alle Chemotherapie-Medikamente verursachen zwangsläufig Haarausfall.

 

Welche Faktoren beeinflussen, ob und wann Haarausfall auftritt?

Binder: Ausser von der Art des Medikaments hängt die Wahrscheinlichkeit von Haarausfall von der Dosis und der Dauer der Chemotherapie-Behandlung ab. Hochdosierte Chemotherapien sind eher mit Haarausfall verbunden. Hinzu kommt, dass genetische Unterschiede dazu führen können, dass manche Menschen empfindlicher auf Chemotherapie-induzierten Haarausfall reagieren als andere.

Chemotherapie geht viel Halbwissen voraus, jetzt klären wir die Vorurteile

Viele Menschen befürchten, dass Chemotherapie das Immunsystem so schwächt, dass sie anfällig für Infektionen werden. Können Sie uns erläutern, wie das Immunsystem während der Behandlung unterstützt wird und welche Vorsichtsmassnahmen Patient*innen ergreifen können?

Es ist richtig, dass die Chemotherapie das Immunsystem beeinträchtigen kann, was Patient*innen anfälliger für Infektionen machen kann. Die Unterstützung des Immunsystems während der Behandlung ist ein wichtiger Aspekt der Krebsversorgung. In einigen Fällen kann eine prophylaktische Antibiotika-Gabe in Betracht gezogen werden, um das Infektionsrisiko zu verringern. Vor Beginn der Chemotherapie sollten empfohlene Impfungen aufgefrischt werden, um den Schutz vor Infektionen zu erhöhen. Manche Impfungen sind besonders relevant für Krebsbetroffene, wie die gegen die Virusgrippe, Corona, Gürtelrose und Lungenentzündung. Patient*innen können aber auch selber etwas tun: Eine gesunde Ernährung, ausreichende Flüssigkeitszufuhr und angemessene Hygienemassnahmen können helfen.

 

Man hört oft, dass die Chemotherapie so schlimm ist, dass es besser ist, die Behandlung ganz abzubrechen. Warum und wie würden Sie Betroffene ermutigen, trotz der Herausforderungen der Behandlung motiviert zu bleiben und den Verlauf nicht vorzeitig abzubrechen?

Die Entscheidung, eine Chemotherapie-Behandlung fortzusetzen oder abzubrechen, ist eine sehr persönliche und komplexe Angelegenheit. Falls das Ziel der Behandlung die Heilung ist, ist dies ein gewichtiger Grund, die Behandlung nicht vorzeitig abzubrechen, um die Chance auf Heilung nicht zu gefährden. Moderne Medizin bietet eine breite Palette von unterstützenden Therapien, die entwickelt wurden, um die Nebenwirkungen der Chemotherapie zu lindern.

 

Wie sieht es aus bei Chemotherapien, die in der palliativen Situation eingesetzt werden?

Bei Chemotherapien, die in der palliativen Situation eingesetzt werden, um die Krankheit zurückzudrängen und die Lebenszeit zu verlängern, muss man sehr genau mit den Patient*innen zusammen hinschauen. Diese Therapien sollten auch die Lebensqualität verbessern. Wenn sie das nicht tun und die Patientin trotz der ergriffenen Massnahmen sehr stark unter den Nebenwirkungen leidet, dann ist es sinnvoller, die Chemotherapie einzustellen und nur noch Massnahmen zur Steigerung der Lebensqualität am Lebensende zu ergreifen.

Der Chemotherapie eilen Vorurteile und Halbwissen voraus. Wir erklären die Chemotherapie

Welche Faktoren spielen bei der Motivation zur Chemotherapie eine tragende Rolle?

Bei der Motivation zur Chemotherapie spielt das Team aus Pflegekräften, Ärzt*innen und anderen Fachleuten eine enorme Rolle! Sie regen Patientinnen und Patienten dazu an darüber nachzudenken, was persönliche Motivatoren sein könnten. Dies kann die Familie, aber auch bestimmte Ziele oder Zukunftspläne sein. Es ist wichtig mit Angehörigen und engen Freunden über Sorgen und Bedenken zu sprechen, um emotionale Unterstützung zu erhalten. Auch Erfolgsgeschichten von anderen Patient*innen können motivieren, inspirieren und Hoffnung geben!

 

Verbreitet ist die Annahme, dass Chemotherapie nur im Endstadium der Krebserkrankung angewendet wird. Könnten Sie uns darüber aufklären, in welchen Stadien der Krankheit Chemotherapie eingesetzt wird und wie sie in Kombination mit anderen Behandlungen wirken kann?

Chemotherapie kann in verschiedenen Stadien einer Krebserkrankung und in unterschiedlichsten Kombinationen eingesetzt werden, nicht nur im Endstadium der Erkrankung, wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist. In den letzten Jahren hat sich immer mehr der Wert von sogenannten neoadjuvanten Behandlungen gezeigt. In diesen Fällen wird Chemotherapie vor der Operation eingesetzt, um die Wahrscheinlichkeit einer Heilung zu erhöhen. Oft ist es der natürliche Wunsch der Patient*innen, den Tumor so schnell wie möglich zu entfernen. In dieser Situation klären wir darüber auf, dass grosse Studien gezeigt haben, dass die neoadjuvante Chemotherapie dazu beitragen kann, den Tumor vor der Operation zu verkleinern. Ein verkleinerter Tumor kann oft präziser und mit weniger Schäden entfernt werden. Darüber hinaus hilft sie, kleine Krebszellnester – sogenannte Mikrometastasen - zu bekämpfen und erhöht dadurch die Chance auf Heilung.

Chemotherapien werden nur noch selten alleine angewendet. Häufig erfolgt eine Kombination mit der Strahlentherapie, mit gezielten Therapien oder auch mit der Immuntherapie. Die verschiedenen Wirkprinzipien ergänzen sich, so dass bessere Behandlungsergebnisse erzielt werden können.

 

Manchmal hört man, dass alternative Therapien genauso effektiv wie Chemotherapie sein können, ohne die negativen Auswirkungen. Könnten Sie uns erklären, warum die wissenschaftliche Gemeinschaft auf die Wichtigkeit von evidenzbasierter Medizin, wie der Chemotherapie, besteht?

Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass wir zu einer integrativen Medizin finden. Dies ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Gesundheitsversorgung, bei dem evidenzbasierte schulmedizinische Behandlungen mit komplementären Therapien kombiniert werden, die sich als sicher und wirksam erwiesen haben. Das Ziel der integrativen Medizin ist es, die besten Aspekte aus verschiedenen medizinischen Ansätzen zu nutzen, um die Gesundheit und das Wohlbefinden der Patient*innen bestmöglich zu fördern.

Anna Birkenmeier
Datum: 26.10.2023