«Die Zahl der Cancer Survivor wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen»
Über 50 Prozent der Krebspatient*innen können heute langfristig geheilt werden. Für diese sogenannten Cancer Survivor nimmt die Nachsorge eine entscheidende, oft lebenslange Rolle ein.
Im Gespräch mit Prof. Jörg Beyer
Herr Prof. Beyer, dem Thema «Cancer Survivor» wurde lange Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt – inzwischen ist es in aller Munde. Woher denken Sie, kommt das?
Prof. Beyer: Erfolge in der Krebstherapie, durch frühzeitige Diagnose, einer engen interdisziplinären Zusammenarbeit, und einer grossen Zahl neuer und hoch wirksamer Medikamente, führen zu einer zunehmenden Zahl an Langzeitüberlebenden, die prinzipiell eine «normale» oder fast normale Lebenserwartung haben können. Entsprechend wird dem Thema auch medial immer grössere Aufmerksamkeit geschenkt.
Man schätzt, dass die Zahl der Überlebenden einer Krebserkrankung die Zahl der an Krebs erkrankten Personen in der Schweiz deutlich übersteigt. Welche Rolle nimmt dementsprechend die Nachsorge ein?
Prof. Beyer: Sie nimmt eine entscheidende, oft lebenslange Rolle ein. Nur in den ersten Jahren dient die Nachsorge der Erkennung von Rezidiven. In den nachfolgenden Jahren steht die Erkennung von Folgeschäden der Behandlung und eine mögliche «Schadensbegrenzung» im Vordergrund.
Menschen haben nach einer erfolgreichen Krebstherapie häufig gesundheitliche Probleme wie ein erhöhtes Risiko für einen frühen Herzinfarkt und Schlaganfall. Es besteht auch das Risiko einer zweiten, unabhängigen Krebserkrankung. Deshalb kommt nicht nur der regulären Krebsfrüherkennung eine grosse Bedeutung zu, sondern vor allem auch der Lifestyle-Beratung (Nikotinabstinenz, Kontrolle des Alkoholkonsums, regelmässige körperliche Aktivität, gesunde Ernährung). Klare Empfehlungen für eine individuell angepasste Nachsorge sind dabei ebenso wichtig wie die Einbindung verschiedener Berufsgruppen wie Psychoonkolog*innen und Sozialarbeiter*innen wegen der häufigen Probleme in diesen Bereichen.
Stichwort Psychische Belastung und soziale Faktoren. Wie sind Krebsüberlebende langfristig von der überstandenen Erkrankung und den Therapien beeinflusst?
Prof. Beyer: Auch wenn die Krebserkrankung überstanden ist, so hat sie weiterhin grossen Einfluss auf das physische und psychische Wohlbefinden der Betroffenen. So können etwa Chemo- und/oder Radiotherapien nicht nur akut, sondern mittel- und langfristig zu Organschädigungen führen. Dabei sind Langzeitschäden nach einer Krebsbehandlung nicht immer offensichtlich: Gelegentlich kommen Erschöpfungssyndrome vor, die in Einzelfällen chronisch fortbestehen und berufliche, soziale und auch finanzielle Einbussen zur Folge haben können. Ebenso sind Probleme mit Sexualität und der Partnerschaft nicht selten; jedoch sprechen viele Betroffene nicht darüber - und wir Ärzte*innen fragen oft nicht nach.
Welche Unterschiede zwischen gesunden Menschen und Cancer Survivor beobachten Sie?
Prof. Beyer: Die Sorge vor einem Wiederauftreten der Krebserkrankung schwingt lebenslang mit – auch wenn sie oft unterschwellig ist. Und wie bereits erwähnt, berichten viele Cancer Survivor, dass ihre «Batterie» sehr viel schneller entlädt als vor der Krebsdiagnose und längere Ruhepausen notwendig sind.
Inwieweit können Cancer Survivor wieder ihrem normalen Alltag nachgehen?
Prof. Beyer: So pauschal lässt sich das nicht sagen. Jedenfalls ist es das Ziel, die körperliche Leistungsfähigkeit, Lebensfreude, Konzentration und geistige Schaffenskraft wieder zu erlangen.
«Die Wiedereingliederung in den beruflichen und sozialen Alltag steht vor allem bei jüngeren Menschen im Vordergrund. Bei älteren Menschen ist es das Wiedererlangen und der Erhalt der Selbstständigkeit.»
Welche Hilfsangebote gibt es für Cancer Survivor?
Prof. Beyer: Ungeklärt ist aktuell noch, wer für die Betreuung der zunehmenden Zahl an Cancer Survivor zuständig ist. Eine langfristige oder gar lebenslange Betreuung wird nur in Ausnahmefällen in der onkologischen Spezialambulanz möglich sein. Da viele der Probleme wie etwa Einschränkungen der Organfunktionen oder ein metabolisches Syndrom in den Bereich der Allgemeinmedizin fallen, ist eine hausärztliche Betreuung oder eine Betreuung in Kliniken für Allgemeinmedizin naheliegend.
Spezialsprechstunden im Rahmen von «Cancer Survivor Clinics», die im angloamerikanischen Raum etabliert sind und mittlerweile auch an einigen Schweizer Spitälern eingerichtet wurden, können Hausärzte*innen dabei unterstützen und beraten, wie eine individuelle Nachsorge optimal gestaltet werden kann. Diese Spezialambulanzen stehen vor allem für besonders schwer Betroffene offen. Eine langfristige oder gar lebenslange Betreuung ist aber in der Regel auch dort nicht möglich. Zumal eine gezielte Finanzierung derartiger Einrichtungen in der Schweiz bislang noch aussteht, und deren Kapazitäten deshalb sehr begrenzt sind.
Welche Rolle spielen Angehörige von Cancer Survivor und wie sollten sie unterstützt werden?
Prof. Beyer: Durch eine Krebserkrankung sind in der Regel nicht nur die erkrankten Menschen selbst, sondern auch Eltern, Ehe- bzw. Lebenspartner*innen, weitere Angehörige und nahestehende Personen betroffen. Diese übernehmen meist zu einem erheblichen Anteil die Betreuung der an Krebs erkrankten Personen und sind damit ähnlich hohen Belastungen ausgesetzt wie die Krebskranken selbst; mit dem Risiko für körperliche, psychische, soziale und finanzielle Probleme. Bei der Betreuung von Cancer Survivor sollte daher immer auch das unmittelbare Umfeld bzw. die betreuenden Angehörigen («care givers») mit einbezogen werden.
Wo gibt es noch Forschungs- und Aufklärungsbedarf?
Prof. Beyer: Die Betreuung von Cancer Survivor in der Schweiz ist meist unsystematisch, fragmentiert und hinsichtlich des Nutzens einzelner Instrumente und Interventionen wissenschaftlich wenig untersucht. Ebenso sind Nachsorgekonzepte für die Zeit nach einer abgeschlossenen Krebserkrankung kaum erforscht. Während zur Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen eine Vielzahl von Studien zur Verfügung steht, gibt es zum Thema Nachsorgekonzepte bei Erwachsenen nahezu keine durch Daten gesicherte Evidenz.
Datum: 20.08.2024
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