
Wenn Hilfe belastet: Der Umgang mit gut gemeinten Ratschlägen

Krebserkrankungen stellen Betroffene nicht nur körperlich, sondern auch psychisch und sozial vor enorme Herausforderungen. Angehörige oder Freunde möchten helfen – und greifen dabei häufig zu Ratschlägen. Doch was gut gemeint ist, kann zusätzlichen Druck erzeugen.
Christina Barry begleitet Betroffene und weiss, welche Worte Kraft geben – und welche eher belasten.
Christina Barry arbeitet seit drei Jahren in der psychoonkologischen Abteilung des Kantonsspitals Aarau – und hat darin ihren absoluten Traumjob gefunden. Für Aussenstehende mag das zunächst ungewöhnlich klingen: «Manchmal ernte ich erstaunte Blicke, wenn ich sage, dass ich freiwillig im Bereich Krebs arbeite. Für mich ist es jedoch sehr bereichernd, Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen Impulse zu geben, die sie stärken. Und ich darf von jedem einzelnen Menschen lernen und viele berührende Momente mit ihnen teilen. Dafür bin ich jeden Tag dankbar.»
In Gesprächen mit Patientinnen erfährt Barry auch Dinge, die diese in ihrem Alltag belasten – darunter gut gemeinte Ratschläge, die jedoch eher kontraproduktiv sind. «Zu den häufigsten gehören Sätze wie ‚Du musst jetzt positiv denken, damit der Krebs keine Nahrung hat‘, aber auch Aufforderungen wie ‚Du musst stark sein und kämpfen‘ oder Ratschläge wie ‚Ich kenne da jemanden, der sagt, dass XYZ helfen soll – das musst du unbedingt ausprobieren‘. Besonders belastend sind Aussagen wie: ‚Du solltest mal darüber nachdenken, warum dir das passiert ist‘», so die Psychotherapeutin.
Barry betont, dass solche Ratschläge völlig fehlgeleitet sind – sie hätten «kein bisschen Hand und Fuss». Als Beispiel nennt sie das «positive Denken». Gerade für Betroffene sei es sehr wichtig, auch schwierigen Gedanken Raum zu geben. «Wenn ich versuche, ausschliesslich positiv zu denken, entsteht schnell Druck. Dann fühle ich mich vielleicht einsam, unverstanden oder habe das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt, wenn ich schwierige Momente habe – dabei sind solche Phasen bei einer existenziellen Diagnose völlig normal.» Positives Denken könne zwar eine wertvolle Ressource sein, wenn es sich von selbst entwickelt, dürfe aber niemals zum Zwang werden.
All diese Ratschläge haben eines gemeinsam: Sie vermitteln Betroffenen das Gefühl, selbst verantwortlich für die Krankheit oder Heilung zu sein.
Zwischen Druck und Hilfsbereitschaft
All diese Ratschläge haben eines gemeinsam: Sie vermitteln Betroffenen das Gefühl, selbst verantwortlich für die Krankheit oder Heilung zu sein. «Das ist eine unheimlich hohe Bürde, die auf ihnen lastet,» betont Barry. Zwar könne ein Ratschlag auch Hoffnung geben. Meistens erzeugen sie jedoch Druck, Angst und Schuldgefühle. Viele Ratschläge entspringen dabei dem ehrlichen Wunsch zu helfen. «Diejenigen, die solche Sätze sagen, meinen es ja meistens gut. Aber oft entsteht beim Gegenüber das Gefühl, einen riesigen Medizinball zugespielt zu bekommen. Und plötzlich liegt es an den Betroffenen, diesen Ball zu halten,» erklärt Barry.
Für Patienten kann es entlastend sein, sich bewusst zu machen, dass Ratschläge auch Ausdruck der Hilflosigkeit der anderen sein können. Wer nicht weiss, wie er unterstützen soll, sagt oft irgendetwas, nur um nicht still zu bleiben. «Die grösste Unterstützung ist oft nicht ein kluger Rat, sondern schlicht zu zeigen: Ich sehe, wie es dir im Moment geht, ich bin für dich da», so Barry.
Grenzen setzen und eigene Bedürfnisse ausdrücken
Wie können Betroffene angemessen auf belastende Ratschläge reagieren, ohne das Gegenüber vor den Kopf zu stossen? Barry empfiehlt, die eigenen Bedürfnisse zu reflektieren und dann möglichst klar und respektvoll zu formulieren. Hilfreich seien Ich-Botschaften: «Ich merke, dass du mich unterstützen willst, und das finde ich schön. Wenn du mir aber Ratschläge gibst, fühle ich mich unter Druck gesetzt. Mir hilft es mehr, wenn du einfach fragst, was mir guttut.»
Wichtig ist, die positive Absicht des Gegenübers anzuerkennen und zugleich klarzumachen, was hilfreich wäre. Dabei sollte man das eigene Energieniveau beachten: Hat man gerade die Kraft, sich auf das Gespräch einzulassen oder lohnt es sich nicht, Energie zu investieren? «Manchmal ist es besser, die Situation innerlich zu beobachten, vielleicht sogar mit einem Lächeln, und sie vorbeiziehen zu lassen», sagt Barry.
Auch humorvolle Strategien können entlasten, wenn man der Typ Mensch dafür ist. Wichtig ist dabei die Stimmigkeit, so die Expertin: «Man sollte nur dann humorvoll reagieren, wenn es auch von der Gegenseite passt und man selbst sich dabei wohlfühlt. Für manche ist Humor ein Ventil, für andere sind es vielleicht Schreiben, Bewegung oder Gespräche mit vertrauten Personen.

Selbstzuwendung statt Schuldgefühle
Ein zentrales Thema in der Begleitung ist die Schuldfrage. Viele geben sich selbst die Verantwortung für belastende Gefühle, die nach gut gemeinten Ratschlägen entstehen. Stattdessen wäre es gemäss Barry wichtig, sich selbst mit Freundlichkeit zu begegnen. Die Psychotherapeutin arbeitet dabei häufig mit Elementen der Acceptance-and-Commitment-Therapie (ACT). Eine einfache Übung besteht darin, zunächst das aktuelle Gefühl bewusst zu benennen – etwa Wut, Verletzlichkeit oder Traurigkeit – und dann innerlich mit einem freundlichen Satz zu reagieren: «Sei nachsichtig mit dir» oder «Du darfst dir Zeit geben». Für viele Betroffene sei das Neuland, aber ein wirksamer Schritt, um Schuldgefühle zu verringern und Selbstfürsorge zu entwickeln. Aus ihrer Erfahrung heraus hat Barry eine klare Botschaft an das Umfeld: «Weniger Ratschläge, mehr Fragen.» Viele Betroffene wissen selbst am besten, was ihnen hilft. Statt zu erklären, was angeblich nützlich ist, sei es besser, direkt zu fragen, was die Person braucht und wie man sie unterstützen kann. Oft ist es das grösste Geschenk, einfach präsent zu sein: «Nicht fliehen, nicht mit Sprüchen überdecken – sondern einfach zuhören und da sein, innerhalb der eigenen Energiereserven», so Barry.
Datum: 09.10.2025