Haarverlust nach Chemo- oder zielgerichteter Therapie
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Haar­verlust nach Chemo- oder ziel­gerichteter Therapie

Haarverlust nach Chemo- oder zielgerichteter Therapie

Marie-Luise Fontana
Psychoonkologin mit eigener Praxis in Bern

Haare haben in unserer Gesellschaft eine grosse Bedeutung. Sie drücken Stimmungen aus, symbolisieren Lebenskraft und sind Teil unserer Individualität. Und genauso wie Haare einen hohen Stellenwert haben, hat auch ihr Fehlen eine enorme Tragweite. Der Haarverlust ist deshalb für Krebsbetroffene eine herausfordernde und emotionale Erfahrung.

Frau Fontana, kann man sich psychisch auf einen möglichen Haarverlust vorbereiten?

Marie-Louise Fontana: Man kann nicht vorwegnehmen, wie sich der Haarverlust anfühlen wird. Dennoch bedeutet das nicht, dass man sich nicht darauf vorbereiten kann. Es ist möglich, diesen schwierigen Moment in bewältigbare Schritte zu unterteilen. Viele Betroffene, insbesondere solche mit langen Haaren, entscheiden sich zunächst dafür, ihre Haare zu kürzen. Das kann bereits hilfreich sein, denn psychisch fühlt es sich anders an, wenn man lange Haarsträhnen verliert im Vergleich zu kurzen. Ich empfehle ausserdem, frühzeitig Kontakt mit einer Fachperson aufzunehmen, die Perücken oder Haarteile anbietet. So hat man eine gute Anlaufstelle bereit, sobald der Haarausfall einsetzt. Diese praktische Vorbereitung kann dazu beitragen, dass man psychisch besser mit dem Haarverlust umgehen kann.

 

Was sind für Betroffene die grössten Herausforderungen, wenn es zum Haarverlust kommt?

Fontana: Eine grosse Herausforderung besteht darin, dass Betroffene offensichtlich als Krebspatient*innen gekennzeichnet werden. Vom einen Tag auf den anderen werden sie von gesund zu krank eingestuft und dementsprechend behandelt. Viele Betroffene hören auch Sätze wie: «Jetzt ist es wichtig, gesund zu werden, da sind Haare wohl das kleinste Problem.» Das ist falsch. Haarverlust ist ein zentrales Thema und sollte ernst genommen werden, weil es so einschneidend ist und die Lebensqualität der Betroffenen beeinflusst.

Es gibt auch Aspekte, an die man vielleicht nicht denkt, die jedoch zu Herausforderungen werden. Zum Beispiel werden im Sommer Schweisstropfen nicht mehr von den Haaren aufgenommen, sondern bleiben auf der nackten Haut und sind unangenehm. Die Kopfhaut benötigt mehr Pflege und Sonnenschutz, und in der Nacht frieren Betroffene oft, da über den Kopf die meiste Wärme verloren geht.

Nicht alle können sich ohne Haare wohlfühlen und das muss auch nicht sein.

Marie-Luise Fontana

Wie verändert sich das Körperbild von Betroffenen?

Fontana: Nebst dem Haarverlust können Chemo-und zielgerichtete Therapien weitere körperliche Veränderungen verursachen, wie beispielsweise Gewichtszunahme oder aufgedunsene Haut. All diese Veränderungen sind darum so schwierig zu akzeptieren, weil sie so plötzlich passieren. Nachdem der Haarverlust durchlebt wurde und man 2 – 3 Wochen «oben ohne» unterwegs war, rücken meist andere Themen in den Vordergrund und der Haarverlust verliert an Bedeutung. Man gewöhnt sich an viele Dinge, auch daran, sich selbst ohne Haare zu sehen.

 

Wie kann man den Haarverlust annehmen und sich wieder wohl fühlen?

Fontana: Nicht alle können sich ohne Haare wohlfühlen und das muss auch nicht sein. Es ist erlaubt, mit dem Haarverlust zu hadern, bis die Haare wieder nachwachsen. Für die psychische Gesundheit ist es jedoch besser, einen Weg zu finden, sich trotzdem wohlzufühlen.

Ich sage immer «Mutet euch zu!». Geht trotz des sichtbaren Haarverlusts nach draussen. Vielleicht sogar «oben ohne» oder mit Tüchern oder Perücken. Ihr müsst euch nicht für andere verstecken. Wenn ihr ein Tuch tragt, um euch selbst wohler zu fühlen, ist das in Ordnung. Aber wenn ihr den anderen euren Anblick ersparen möchtet, ist das falsch. Ihr durchlebt bereits eine Krebstherapie, ihr müsst euch nicht auch noch anpassen.

Traut euch auch, euch selbst anzusehen. Es kann helfen, sich immer wieder im Spiegel zu betrachten und das Spiegelbild anzunehmen. Sprecht darüber mit vertrauten Menschen. Je mehr man darüber spricht, sich zeigt und selbst darüber reden hört, desto normaler wird es und desto schneller gelingt es, den Haarverlust zu akzeptieren.

Ausserdem hilft es, den Verlust der Haare als Teil des notwendigen Prozesses zu betrachten. Der Haarverlust ist das sichtbare Zeichen dafür, dass die schnell wachsenden Zellen abgetötet werden und die Therapie somit wirkt. Das kann helfen, den Haarverlust in einem neuen Licht zu sehen.

 

Weshalb fallen die Haare aus?

Chemotherapie

Bei der Chemotherapie werden Medikamente eingesetzt, die darauf abzielen, schnell wachsende Krebszellen zu zerstören. Diese Medikamente wirken jedoch nicht nur auf Krebszellen, sondern können auch normale Zellen beeinflussen, die sich schnell teilen, wie Haarfollikelzellen. Die Chemotherapie kann daher zu einer Schädigung der Haarfollikel führen, was zu Haarausfall führt.

Zielgerichtete Therapien:

Zielgerichtete Therapien wie Anti-körper-Wirkstoff-Konjugate wirken spezifisch auf bestimmte Moleküle oder Signalwege, die für das Tumorwachstum verantwortlich sind. Diese Therapien zielen auf spezifische Merkmale von Krebszellen ab und sollen gesunde Zellen möglichst wenig beeinflussen. Einige zielgerichtete Therapien können dennoch zu Haarausfall führen, insbesondere wenn sie auf Signalwege abzielen, die auch in gesunden Zellen aktiv sind.

Podcast Special Haarverlust

Mehr Informationen zum Umgang mit Haarverlust findest du im Podcast Special Haarverlust. Wir schauen uns an, wie man sich psychisch darauf vorbereiten kann und welche praktischen Tipps es in dieser Phase gibt. Dabei begleiten uns eine Betroffene, eine Psychoonkologin und eine Expertin für Haare.

Hier geht es zum Podcast

Tipps von Angiolina Berardelli-Barone, Coiffeurin, Workshop-Leiterin “Look Good Feel Better” und Brustkrebs-Betroffene:

Praktische Tipps

  • Sobald der Haarausfall beginnt, die Haare bis auf 2mm abrasieren. Sonst können sich die Haarzwiebeln entzünden und es juckt.
  • Nach dem Abrasieren in der Dusche die restlichen Haare herunterwaschen.
  • Kopfhaut immer trockenföhnen, damit die Poren nicht verstopfen und sich keine Pickel bilden.
  • Kopfhaut mit Feuchtigkeitscreme und Sonnenschutzfaktor 50 pflegen.
  • Wer die Haare nicht abrasieren möchte, kann die Haarsträhnen zusammenbinden und ein Stirnband tragen.

 

Den Haarverlust kaschieren

  • Perücken oder «neue Frisur»
    • Sich Zeit nehmen, um den richtigen Friseursalon auszuwählen. Im Angebot sollte Beratung, Betreuung, Waschen und Anpassen inkludiert sein.
    • Perücken aus Modeacryllic sind sehr leicht und einfach von Hand waschbar, die Frisur bleibt die Gleiche auch nach dem Waschen.
    • Echthaar ist schwerer, wärmer und braucht mehr Pflege.
    • Perücken mit Pony kaschieren die fehlenden Augenbrauen.
    • Für mehr Farbe Mèches einknüpfen.
    • Eine gute Perücke hat vorne ein Frontlace, damit sie sich an die Kopfhaut anpasst und die Farbe der Kopfhaut annimmt.
  • Kopftücher können vielseitig gebunden werden und setzen Farbakzente
  • Beanies, Mützen oder Hüte sind unkompliziert einsetzbar.
  • Käppli und ein Foulard rundherum geben das Gefühl von Haaren auf der Schulter.

 

Tipps für Augenbrauen und Wimpern

  • Auge mit Kajal umranden, um fehlende Wimpern zu kaschieren.
  • Augenbrauen mit feinem Stift nachzeichnen.
  • Mit dezentem Make-Up oder einer Brille das Auge mehr zum Strahlen bringen.
  • Mit einer Brille aus Fensterglas das Auge vor Staub und Schmutz schützen, da die Wimpern diese Aufgabe nicht mehr übernehmen können.

 

Angebote und Workshops

Journalistin: Nadine Gantner
Datum: 29.01.2024