Betroffener von Prostatakrebs findet seine innere Stärke
Prostatakrebs
Patientenkompetenz

Auf der Suche nach vergra­benen Kraft-Schätzen

Gerd Nagel, Experte für Patienten Empowerment bei Prostatakrebs betroffenen

Prof. Gerd Nagel
Professor für Innere Medizin und Onkologie
Gründer Stiftung Patientenkompetenz

Jeder trägt Ressourcen in sich, die ein gewaltiges Potential zur Krankheitsbewältigung darstellen. Manchmal muss dieser Ressourcenschatz allerdings erst entdeckt und freigeschaufelt werden. Prof. Dr. Gerd Nagel ist einer der Gründerväter des Patienten-Empowerments und begibt sich mit seinen Patientinnen und Patienten auf Schatzsuche.

Patienten  Empowerment

Herr Nagel, Sie sind Professor für Onkologie und haben sich seit vielen Jahren dem Patienten-Empowerment verschrieben. Weshalb?

Prof. Nagel: Aus eigener Erfahrung weiss ich, wie (überlebens-)wichtig es sein kann, seine Ressourcen, diese inneren Kraftquellen zur Bewältigung schwieriger Lebenssituationen, zu kennen und zu aktivieren. Derartiges SELBST-Empowerment nimmt das Gefühl der Machtlosigkeit, die eine chronische Krankheit mit sich bringen kann. Je früher Patient*innen lernen, ihre Ressourcen zu entdecken und zu nutzen, desto grösser ist ihre Chance, sich der neuen Lebenssituation auch erfolgreich zu stellen. Mir ist es deshalb ein Anliegen, Patient*innen auf diesem Weg zu schulen und sie bei der Suche nach ihren Kraftquellen zu unterstützen.

 

Wie wird der Begriff Patienten-Empowerment überhaupt definiert?

Nagel: Patienten-Empowerment ist die Befähigung von Patientinnen und Patienten, eigene, innere Kräfte zur Bewältigung von Krisen oder Erkrankungen zu entdecken, zu fördern und zielgerichtet einzusetzen. Alle Menschen verfügen über eine Fülle solcher Kräfte. Es gilt jedoch immer herauszufinden, welcher Ressourcenschatz im Einzelfall vorliegt. Bei solcher Schatzsuche kann der Empowerment-Coach ein kundiger Begleiter sein.

Prostatakrebsbetroffener versteht, was ihm gut tut

Welche Rolle spielt Patienten-Empowerment für Prostata-krebsbetroffene?

Nagel: Prostatakrebs geht für die betroffenen Männer oft mit Gefühlen wie Entmännlichung, Versagen, Minderwertigkeit und auch Trauer über verlorene Vergangenheiten einher. Beim Empowerment-Coaching stehen diese Gefühle jedoch nicht im Mittelpunkt. Das Patienten-Empowerment ist zukunftsorientiert. Wie lässt sich mit und trotz eines Handicaps ein kreatives Leben im Rahmen einer neuen Normalität führen? Welche sind meine bisher noch ungenutzten Ressourcen – und so weiter.

 

Die meisten Männer sind nicht unbedingt dafür bekannt, gerne über ihre Gefühle zu sprechen…

Nagel: Männer gelten als Macher. Innere Kräfte? Sensible Wahrnehmung? Empfindsamkeit? – scheinbar Fremdwörter. Aber täuschen wir uns nicht! Dazu die Anekdote von einem Patienten: Ich habe ihn wieder und wieder nach seinen Ressourcen gefragt. Und immer wieder antwortete er: «Ich bin Automech. Am liebsten liege ich unter einem Auto ‹am schrüble›. Das ist alles, was ich kann». Irgendwann habe ich ihm vier Bilder gezeigt: ein Flugzeug, ein Hammer, ein Löwe und ein Gänseblümchen. Was denken Sie, auf welches dieser Bilder tippte er entschieden und ohne lange zu überlegen? Er tippte auf das Gänseblümchen! Und dann sprudelte es nur so aus ihm heraus, wie sehr ihm die Natur Kraft gebe. Er könne sehr gut morsen und versuche die Klopfzeichen der Spechte im Wald zu entschlüsseln. Er suche mit seinem Hund Trüffel am Zürcher Pfannenstiel und so weiter.

«Unterschätzen wir die Männer nicht.»

Prof. Gerd Nagel

Das heisst, viele Kräfte sind uns häufig gar nicht bewusst?

Nagel: Ja genau. Es ist manchmal wie die Suche nach einem Schatz im Berg. Aber wenn du weisst, wo und wie, dann findest du auch die Kristalle. Jeder Mensch hat sie in sich, diese Kristalle.

 

Können Sie konkretisieren, um welche Ressourcen es sich dabei handeln kann?

Nagel: Es gibt eine Vielzahl solcher Kräfte. Ich nenne nur drei, die in jedem Empowerment-Gespräch zwischen Patient*in und Empowerment-Coach angesprochen werden:

  • Die Selbst-Wirksamkeits-Erwartung SWE: Die SWE ist die feste Überzeugung des Patienten, das eigene Schicksal SELBST wirksam beeinflussen zu können.
  • Das Ressourcenbewusstsein: Die Kenntnis der eigenen Kräfte zur Krankheitsbewältigung. Das Entdecken und Bewusstmachen dieser Kräfte ist eine der wichtigsten Gemeinschaftsaufgaben von Patient und Coach beim Empowerment-Gespräch.
  • Das Reframing: Reframing heisst, einer Sache einen neuen Rahmen geben, Dinge von einer anderen Seite betrachten, eine andere innere Einstellung zu etwas finden. Beim Reframing findet ein Blickwechsel statt. Weg vom trauernden, negativen Blick auf das Belastende der Vergangenheit und Gegenwart, hin auf eine Zukunft, die positiv gestaltet werden kann.

Inwiefern kann Empowerment-Coaching dazu beitragen, dass Prostatakrebspatienten informierte Entscheidungen über ihre Behandlung treffen können?

Nagel: Das wachsende Selbstbewusstsein im Coaching wirkt sich auch positiv auf die Mitentscheidung bei der Therapie aus. Allerdings möchte ich betonen, dass beim Patienten-Empowerment-Coaching Fragen zur Entwicklung, Diagnostik oder Therapie der Erkrankung nicht zur Diskussion stehen. Beim Empowerment geht es ausschliesslich um Fragen des Patienten-Selbst-Managements im Hinblick auf das Leben im Rahmen der künftigen, neuen Normalität.

 

Werden heute bereits alle Patienten mit Prostatakarzinom von Empowerment-Coaches zum Selbst-Management geschult?

Nagel: Nein, nur ausnahmsweise und oft noch unprofessionell. Denn die Methoden des Empowerment-Coachings wurden erst in den letzten Jahren wirklich erforscht und entwickelt. Das Empowerment-Coaching ist keine triviale Angelegenheit. Es muss wirklich systematisch gelernt werden.

Was ist der Nutzen des Patienten-Empowerments?

  • die Krankheit verläuft komplikationsloser
  • die Lebensqualität wird verbessert
  • medikamentöse Behandlungen werden besser vertragen
  • die Anpassung des Patienten an die neue Lebenssituation erfolgt schneller und leichter
  • «empowerte Patienten» finden früher wieder in das soziale und berufliche Leben zurück
  • das neu gestärkte Selbst-Bewusstsein des Patienten bewirkt eine Entlastung des Umfelds

 

Die Fragen, ob durch das Patienten-Empowerment auch die Heilungschancen verbessert oder Krankheitskosten gesenkt werden, lassen sich heute auf Grund fehlender Langzeitstudien noch nicht sicher beantworten.

Ausführliche Hinweise zu Empowerment-Coachings findest du hier: www.myempowerment.ch

Anna Birkenmeier
Datum: 28.11.2023