Krebs Polyneuropathie
Für alle
Nebenwirkungen

Poly­neuro­pathie: «Man darf und soll solche Symptome offen ansprechen»

Krebs Polyneuropathie Expertin Barbara Gresch

Barbara Gresch
Nurse Practitioner (APN)
Leiterin Breast Care Nurse Ausbildung
ZHAW

Chemotherapien lösen manchmal das diffuse Krankheitsbild der Polyneuropathie aus. ZHAW-Dozentin und Onkologiepflege-Expertin Barbara Gresch erklärt, warum das frühe Erkennen entscheidend ist, was gegen das Kribbeln in Händen und Füssen wirklich hilft und wie kleine Aktionen im Alltag zu Rettungsankern werden können.

Frau Gresch, Sie kennen die Herausforderungen, mit denen Menschen mit Polyneuropathie im Alltag konfrontiert sind. Was beschäftigt Ihre Patientinnen und Patienten am meisten?

Barbara Gresch: Die meisten Betroffenen sind schon gut informiert, wenn die ersten Symptome der Polyneuropathie auftreten. Schliesslich wird im Rahmen der Aufklärung vor Beginn der Chemotherapie stets auf dieses Risiko hingewiesen. Dennoch kommt bei vielen, sobald tatsächlich Symptome auftreten, eine zentrale Frage auf: Bleibt das für immer so – oder geht das Kribbeln wieder weg?

 

Und was antworten Sie dann?

Gresch: Dass dies von verschiedenen Faktoren abhängig ist. In der Regel werden die Symptome während und direkt nach der Therapie etwas stärker. Vorerkrankungen wie Diabetes oder ein höheres Lebensalter sind Risikofaktoren, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es zu einer Polyneuropathie kommt. Mit zunehmendem Abstand zum Therapiezeitpunkt verschwinden die Symptome dann aber bei vielen Erkrankten. Gleichzeitig muss man aber realistisch bleiben: Es gibt auch Fälle, in denen die Beschwerden ein Leben lang bestehen bleiben.

 

Wie genau macht sich die Krankheit denn bemerkbar?

Gresch: Bei Krebspatienten ist das klassische Symptom ein strumpfartiges «Kribbeln» in den Füssen oder eine Art Ameisenlaufen in den Händen. Manche berichten von einem veränderten Temperaturempfinden, andere von diffusen Schmerzen in den Fingern. Ein wichtiges Warnsignal ist zudem, wenn jemand plötzlich Mühe hat, die Knopflöcher beim Hemdanziehen zu schliessen, also eine feinmotorische Einschränkung zeigt. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass die Betroffenen sich so früh wie möglich bei der Ärztin oder dem Pflegefachmann melden. Denn je früher die Polyneuropathie erfasst wird, desto besser lässt sie sich behandeln.

 

Kann man als onkologische Patientin denn etwas tun, um die Krankheit zu vermeiden?

Gresch: Leider nur in einem begrenzten Mass. Denn eine Polyneuropathie ist bei an Krebs Erkrankten eine direkte Folge der Chemotherapie, etwa durch typische Substanzen wie Taxane, Vinca-Alkaloide oder Platine. Manche entwickeln die Symptome schon nach dem ersten Behandlungszyklus, bei anderen treten sie erst später auf. Patientinnen und Patienten sollten diesbezüglich wissen: Man darf und soll solche Symptome offen ansprechen. Vielfach ist es nämlich so, dass Menschen mit Polyneuropathie das Kribbeln anfänglich aus Angst verschweigen, weil sie fürchten, dass der Arzt deswegen die Therapie abbricht und der Krebs zurückkommt. Dabei ist das ein Irrglaube. Wenn nötig wird meist lediglich die Dosis angepasst oder die Therapie etwas länger pausiert.

Je früher die Polyneuropathie erfasst wird, desto besser lässt sie sich behandeln.

Barbara Gresch

Was raten Sie jenen Polyneuropathie-Betroffenen, bei denen die Symptome bereits vorhanden sind?

Gresch: Aus der evidenzbasierten Forschung wissen wir, dass Bewegung einen der besten Effekte zeigt. Darüber hinaus können supportive Symptomlinderungsmassnahmen helfen. Kurz gesagt ist das alles, was einem gut tut. Bei manchen Leuten wirkt beispielsweise Vibrationstraining mit einem Igelball sehr gut, denn das lindert die Taubheit. Dann gibt es auch Einlagesohlen mit Noppen für die Schuhe, die ähnlich wie eine Fussreflexzonenmassage wirken können. Falls hingegen Schmerzen dominieren, können Medikamente wie Pregabalin oder bestimmte Schmerzmittel helfen, gelegentlich in Kombination mit Co-Analgetika wie Antidepressiva.

 

Was bereitet denn den Erkrankten die grösste Mühe, wenn sie diagnostiziert werden?

Gresch: Viele erleben einen spürbaren Verlust von Lebensqualität. Der Schlaf leidet, Sorgen um den Wiedereinstieg in das Berufsleben nehmen zu. Die kluge Strategie ist deshalb, das Beste aus der Situation zu machen. Ich empfehle aus diesen Gründen auch psychiatrische und psychoonkologische Unterstützung.

 

Gibt es kleine Anpassungen für den Alltag, die eine grosse Wirkung entfalten können?

Gresch: Man sollte als Betroffene etwa auf gutsitzende Schuhe achten, um Druckstellen zu vermeiden und die Sturzgefahr zu senken. Zu Hause sollte man Stolperfallen beseitigen, Teppiche so gut wie möglich aus dem Weg räumen und nachts für genügend Licht sorgen. Wenn man vor dem Wasserhahn steht, immer darauf achten, dass das Wasser nicht zu heiss eingestellt ist und man sich versehentlich verbrüht, weil das Temperaturempfinden aussetzt.

 

Was können Angehörige tun?

Gresch: Sie haben eine wichtige unterstützende Rolle. Oft reicht es schon, gemeinsam einen Spaziergang zu machen oder die Verwandten zu motivieren, aktiv zu bleiben. Bewegung wirkt nicht nur körperlich, sondern auch emotional stabilisierend. Diese kleinen Gesten können viel bewirken.

 

Zum Schluss: Gibt es Fortschritte in der Forschung oder Therapie, die Ihnen Hoffnung machen?

Gresch: Ja! Es gibt zum Beispiel interessante Versuche mit Capsaicin-Pflastern für betroffene Körperstellen. Der Wirkstoff aus der Chilischote bindet an die Rezeptoren der Schmerzfasern und sorgt dafür, dass die Signale ans Hirn reduziert werden. Auch die vergleichsweise einfache Kryotherapie mit einer Kühlung von 10 bis 12 Grad zeigt in Studien gute Erfolge. Die Forschung dazu nimmt immer mehr Fahrt auf, was mich positiv stimmt.

Mehr Infos zur Polyneuropathie

Broschüre der Krebsliga

 

Journalist: Simon Maurer
Datum: 09.10.2025