Prostatakrebs über Gefühle sprechen Erfahrungsbericht
Prostatakrebs
Kommunikation

«Über Gefühle sprechen? Es hat mein Leben bereichert.»

Über Gefühle zu sprechen oder sich damit auseinanderzusetzen war nicht Pierres Welt. Vielmehr sah er sich in der Rolle des starken Mannes. Bis zu dem Moment, als ihn mehrere Krankheiten in seinen Grundfesten erschütterten.

«Vier Wochen mit dem Wohnmobil durch Polen zu reisen, inmitten der Natur, weit weg von Stress und Hektik – das war traumhaft». Als ich Pierre erreiche, schwelgt er noch immer in seinen Reiseerinnerungen, schwärmt von dieser wertvollen Auszeit und betont: «Ab nächster Woche beginnt für mich ein neues Kapitel: Ich werde pensioniert. Dann sind solche Reisen viel häufiger möglich.» Pierre ist Physiker hat eine beeindruckende Karriere hinter sich und sah sich lange Zeit sehr eng mit seiner Arbeit verbunden. Bis zu dem Moment, «als sein Leben von einem unbändigen Sturm erfasst wurde», wie er sagt.

 

Auseinandersetzung mit den Gefühlen

Zuerst sei da eine zermürbende Scheidung gewesen und als ob dies nicht genug wäre, kamen Probleme im Job hinzu. Die Folge: Depressionen, Burnout, ein kompletter Zusammenbruch. «Ich biss immer die Zähne zusammen, hielt Depressionen und Burnout etwas für Schwache. Und dann trifft es mich – ich war komplett ausgeschaltet, raus aus meinem Leben», erinnert sich Pierre. Nur seine Kinder hätten ihn damals vor dem Suizid bewahrt, gibt er zu. In dieser Zeit lernt er, über Gefühle zu sprechen, sich mit seinem Gefühlsleben auseinanderzusetzen. «Etwas, das ich mein ganzes Leben lang vermieden hatte», sagt er schmunzelnd. Und ja, es sei ein schmerzhafter und zugleich ungemein heilender Prozess gewesen. Sein Leben und die Beziehung zu seinen Liebsten habe dadurch eine neue Tiefe erhalten. Während er gegen die Depressionen kämpft, spürt Pierre, dass auch körperlich etwas nicht in Ordnung ist. «Es war so ein diffuses Gefühl, schwer zu beschreiben». Sein PSA Wert sei über die Jahre hinweg leicht erhöht gewesen, «jedoch nicht weiter besorgniserregend», wie ihm sein Arzt versicherte. Trotzdem beschlich ihn plötzlich so eine Ahnung. Pierre vereinbart einen Checkup-Termin.

Prostatakrebs über Gefühle sprechen Erfahrungsbericht

Pierre und sein junger Hund Benji.

«Die Diagnose war ein Weltuntergang»

Dann der Schock: Der PSA-Wert war plötzlich sehr hoch, eine Biopsie bestätigte: Prostatakrebs. «Die Diagnose war ein Weltuntergang für mich. Es konnte doch nicht sein, nicht das auch noch, nicht ich!» Krebs betraf in Pierres Augen immer die anderen, in seiner Familie waren keine Krebsfälle bekannt. Die Realität zu begreifen, fiel Pierre damals unglaublich schwer. Was folgte waren eine Operation, Bestrahlungen und am Ende die Erkenntnis: Er kommt auch um eine Hormontherapie nicht herum.

 

Angst vor den sexuellen Einschränkungen

«Vor den Nebenwirkungen, den ganzen sexuellen Konsequenzen der Therapie hatte ich grosse Angst», erzählt Pierre. Wie würden sich die Einschränkungen auf seine Beziehung auswirken, wie würde seine Partnerin damit umgehen? Pierre ist seit sieben Jahren in einer Beziehung, «die Liebe seines Lebens», wie er mehrfach betont. Der Gedanke, sie zu verlieren, war für Pierre schlimmer als der Krebs selbst. Seine Partnerin spricht das aus, was er so sehr fürchtet: ihr fehlt der Sex. Pierre fühlt sich machtlos. Was dem Paar hilft, sind die offenen und ehrlichen Gespräche miteinander – und später auch mit einem Sexualpsychologen. «Es war ein langer Weg, aber die Gespräche zu Dritt haben viel bewegt. Meine Partnerin ist noch immer an meiner Seite, und dafür bin ich unendlich dankbar», sagt Pierre und ergänzt: «Obschon das Thema Sexualität weiterhin belastend ist, haben wir heute eine gute Partnerschaft.»

«Es war ein langer Weg, aber die Gespräche zu Dritt haben viel bewegt»

Pierre

Positiver Blick in die Zukunft

Pierres PSA-Wert ist heute bei 0, doch die Angst bleibt. Alle drei Monate muss er zur Kontrolle, und jedes Mal sei da «dieses Bangen, dass die Ergebnisse nicht gut ausfallen» – und zugleich dieser riesige Felsbrocken, der abfällt, wenn alles in Ordnung ist. Er geniesse heute jeden Tag viel bewusster als früher, auch wenn es Momente der Bitterkeit gibt.

Bitterkeit darüber, dass die Krankheiten ihm die Leichtigkeit des Lebens genommen haben. Gegen die Depression nimmt er noch immer eine schwache Dosis Medikamente, zugleich hat er zwei Stents im Herzen. «Bis zum Alter von 55 Jahren war ich fit, dann ging es gesundheitlich bergab. Zugleich hätte ich ohne die Tiefschläge wohl nie zu meinem inneren Gefühlsleben gefunden», resümiert Pierre. Er sei heute viel dünnhäutiger, empfindsamer; was durchaus positiv sei. Und während sich für einen Moment der melancholische, nachdenkliche Pierre zeigt, verändert er sich im nächsten Moment wieder zum abenteuerlustigen, positiven Pierre. «Als Student bin ich als Backpacker durch die ganze Welt gereist – jetzt wo ich Zeit habe, werde ich daran anknüpfen.» Nächster Plan? Mit dem Wohnmobil in den Norden und entlang der Seidenstrasse mit der Partnerin und dem jungen Hund Benji.

Prostatakrebs über Gefühle sprechen Erfahrungsbericht

"Das Leben geht auch mit Krebs weiter, und man darf sich nicht davon herunterziehen lassen. Jeder Tag ist ein Geschenk." Pierre

Pierres Rat an alle:

  • Ab 50 unbedingt den PSA-Test machen.
  • Das Leben geht auch mit Krebs weiter, und man darf sich nicht davon herunterziehen lassen. Jeder Tag ist ein Geschenk.
  • Sich professionnelle Hilfe holen.
  • Sagt euren Liebsten, dass ihr sie liebt, denn das Leben kann jeden Tag zu Ende sein.
Journalistin: Anna Birkenmeier
Datum: 01.10.2024