Reframing bei Krebs: Einordnung, Tipps & Übungen
Für alle
Patientenkompetenz

Reframing: «Die Krebs­diagnose in neuem Licht sehen, ohne die Schwere zu leugnen»

Reframing bei Krebs Experte Patrick Nemeshazy

Dr. Patrick Nemeshazy
Chefarzt, Psychiatrische Dienste und Leiter Psychoonkologie
SRO AG Spital Region Oberaargau

Reframing hilft, eine Krebserkrankung in einem neuen Licht zu sehen und eigene Ressourcen beim Umgang mit der Erkrankung aktivieren zu können. Dr. med. Patrick Nemeshazy ist Psychiater und Psychotherapeut. Im Interview gibt er konkrete Tipps, berichtet von Erfahrungen mit Reframing und sagt aber auch, wo die Grenzen sind.

Zuerst einmal: Was bedeutet der Begriff «Reframing»?

Dr. Patrick Nemeshazy: Reframing ist eine psychotherapeutische Technik, bei der eine Situation, ein Ereignis oder ein Gefühl in einen neuen Rahmen («Frame») gesetzt wird, um dessen Bedeutung zu verändern. Ziel ist es, eine andere, oft positivere oder konstruktivere Perspektive einzunehmen, ohne die Realität zu leugnen.

 

Wie kann Reframing helfen, eine Krebserkrankung emotional besser zu bewältigen und neue Perspektiven zu entwickeln?

Nemeshazy: Zuallererst ist mir wichtig zu sagen, dass nichts eine Krebserkrankung besser erscheinen lassen kann. Es ist eine Katastrophe, ein emotionaler Tsunami. Das ist normal und menschlich; dieser Zustand darf zunächst einfach so akzeptiert werden. Im nächsten Schritt geht es darum, mit der Krankheit umzugehen und zu lernen, mit dieser Realität zu leben. Hierbei kann Reframing eine hilfreiche Technik sein.

 

Inwiefern?

Nemeshazy: Reframing ermöglicht es, die Erkrankung nicht nur als Bedrohung zu sehen, sondern auch als eine Herausforderung, die bewältigt werden kann. Abhängig von der Prognose kann die Situation sogar als Chance zur persönlichen Weiterentwicklung betrachtet werden. Reframing unterstützt Patient*innen dabei, ihre Erfahrungen in einem neuen Licht zu sehen, ohne dabei die Schwere der Diagnose zu leugnen. Es eröffnet neue Perspektiven und hilft, zusätzliche Aspekte der Situation wahrzunehmen, die im gewohnten Blickwinkel oft übersehen werden.

 

Wie genau kann Reframing dazu beitragen, Stress abzubauen und das Selbstwertgefühl zu stärken?

Nemeshazy: Reframing kann in drei wichtigen Bereichen unterstützen:

  1. Stressreduktion: Durch eine veränderte Perspektive verliert eine bedrohliche Situation an Schrecken und zeigt möglicherweise auch positive Aspekte.
  2. Stärkung der emotionalen Resilienz: Wer eine Krise, wie eine Krebserkrankung, überwindet, sieht oft vieles im Leben klarer und selbstbestimmter.
  3. Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit: Eine Metapher hilft, dies zu verdeutlichen: Stellen Sie sich Ihr Selbstwertgefühl als einen Garten vor. Manche Pflanzen blühen, andere welken. Reframing ist wie eine Brille, die Sie aufsetzen, um den Garten neu zu sehen. Was vorher wie Unkraut erschien, sind nun wertvolle Wildblumen. Kahle Stellen werden zu Chancen, Neues zu pflanzen. Mit dieser Brille erkennen Sie das Potenzial und die Schönheit in jedem Teil des Gartens – und so auch in sich selbst.

Durch diese neue Sichtweise werden vermeintliche Schwächen zu Stärken und Herausforderungen zu Chancen.

 

Stichwort Metaphern. Welche Rolle spielen diese sowie Bilder und Geschichten beim Reframing?

Nemeshazy: Bilder, Geschichten und Metaphern sind beim Reframing besonders effektiv, weil sie komplexe Situationen verständlich und greifbar machen. Sie bieten neue Perspektiven auf anschauliche Weise und schaffen emotionale Resonanz, wodurch sie tiefer wirken. Ausserdem sind sie oft leichter zu merken und anzuwenden als abstrakte Konzepte.

 

Können Sie konkrete Beispiele machen?

Nemeshazy: Ein gutes Beispiel ist die Geschichte des Schmetterlings und der Raupe. Die Raupe beklagt sich über den engen, dunklen Kokon, doch der Schmetterling erklärt, dass dieser Kokon keine Strafe, sondern eine Verwandlungskammer ist, die ihr die Möglichkeit gibt, eines Tages zu fliegen. Diese Metapher verdeutlicht, dass Herausforderungen oft Chancen für Wachstum und Veränderung darstellen.

Der Fluss des Lebens ist eine weitere hilfreiche Metapher. Das Leben kann mal ruhig und mal turbulent sein. Statt gegen die Strömung anzukämpfen, kann man lernen, mit ihr zu fliessen und die Reise zu geniessen. Das Akzeptieren von Hindernissen als Teile der Reise hilft, besser damit umzugehen.

Schliesslich verdeutlicht die Geschichte vom Fenster zur Welt, wie Reframing funktioniert. Zwei Menschen schauen durch dasselbe Fenster: Einer sieht nur Schlamm und Pfützen, der andere entdeckt einen Regenbogen am Horizont. Diese Metapher verdeutlicht, dass es oft darum geht, den Blick zu heben und nach dem Positiven zu suchen, selbst wenn die Situation zunächst negativ erscheint.

Reframing sollte nicht dazu führen, dass wir negative Gefühle unterdrücken oder leugnen.

Dr. Patrick Nemeshazy

Reframing verschiebt den Fokus und hilft, das Positive in schwierigen Situationen zu erkennen. Wo aber sind die Grenzen?

Nemeshazy: Reframing sollte nicht dazu führen, dass wir negative Gefühle unterdrücken oder leugnen. Es ist wichtig, toxische Positivität zu vermeiden – also den Druck, immer nur positiv zu denken. Stattdessen sollte ein Raum geschaffen werden, in dem alle Emotionen ihren Platz haben können. Wenn wir etwas nicht positiv sehen können, liegt das nicht an persönlicher Schwäche, sondern oft an der schwierigen Situation selbst. In solchen Momenten ist es entscheidend, diese Gefühle auszuhalten und, wenn nötig, Unterstützung zu suchen. Reframing ersetzt keine medizinische Behandlung oder professionelle psychologische Unterstützung.

 

Könnten Sie einige Beispiele nennen, in denen das Reframing Ihren Patient*innen geholfen hat?

Nemeshazy: Eine Patientin sah ihre Chemotherapie als «Reinigungsprozess» und visualisierte, wie die Medikamente ihren Körper von Krebszellen befreien. Ein Patient nutzte seine Krankheit als Anlass, um lange aufgeschobene Träume zu verwirklichen und begann zu malen. Eine junge Frau interpretierte den Haarverlust durch die Therapie als Möglichkeit, mit verschiedenen Looks zu experimentieren und ihr Selbstbild neu zu definieren. Ein älterer Patient sah seine Diagnose als «Weckruf», um Beziehungen zu seiner Familie zu verbessern und Konflikte zu lösen. Eine Patientin begann, ihre Erfahrungen in einem Blog zu teilen, was ihr half, einen Sinn in ihrer Situation zu finden und anderen Betroffenen Mut zu machen.

 

Zum Schluss: Welche einfachen Reframing-Übungen können Krebspatient*innen im Alltag anwenden?

Nemeshazy:

  1. Dankbarkeitstagebuch: Täglich drei positive Dinge notieren, auch wenn sie klein erscheinen.
  2. «Ja, aber…»-Übung: Negative Gedanken mit «Ja, aber…» ergänzen und eine positive Perspektive hinzufügen. Beispiel: «Es macht mich traurig, dass ich nicht mehr arbeiten kann… ja aber, dafür habe ich nun Zeit für ein neues Hobby.»
  3. Perspektivenwechsel: Was würde mein bester Freund/meine beste Freundin in dieser Situation sagen? Oder was würde ich meinem besten Freund/meiner besten Freundin sagen, wenn sie in meiner Situation wäre?
  4. Stärken-Fokus: Täglich eine persönliche Stärke identifizieren und reflektieren, wie diese in der aktuellen Situation hilfreich sein kann.
Journalistin: Anna Birkenmeier
Datum: 01.10.2024