Resilienz und die Macht der Gedanken
Wie kann man Resilienz trainieren? Was hilft gegen unangenehme Gefühle? Und wie gelingt es, auch an einer Krankheit wie Krebs etwas Gutes zu finden? Martin Inderbitzin, Cancer-Survivor, Neurowissenschaftler und Buchautor beschäftigt sich seit zehn Jahren mit diesen Fragen und hat Antworten darauf gefunden.
Als Martin Inderbitzin vor über zehn Jahren die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhält, macht er sich auf die Suche nach Geschichten von Betroffenen, die ihm Hoffnung geben. Er reist um die halbe Welt und spricht mit Betroffenen darüber, wie es ihnen gelingt, trotz Krebs ihr Leben zu bewältigen und optimistisch zu bleiben – resilient zu sein. Heute sagt er, dass Resilienz nicht angeboren ist, sondern eine Fähigkeit, die man erlernen und trainieren kann: «Das Hirn ist wie ein Muskel, den man aufbauen und somit verändern kann – wenn man dafür offen ist.» Er fügt an, dass Emotionen dabei eine grosse Rolle spielen: «Sie sind physiologische Reaktionen unseres Körpers, ausgelöst durch Geschichten, die uns unser Gehirn erzählt. Bemerkbar machen sich Emotionen etwa durch schwitzige Hände, Nervosität, Freude oder Leichtigkeit. Gleichzeitig erfüllen sie gemäss Inderbitzin eine andere wichtige Funktion: «Emotionen schützen uns. Ekel bewahrt uns davor, giftige Nahrung zu essen, Wut bringt uns in den Verteidigungsmodus, und Angst warnt uns vor Gefahren.»
Emotionen annehmen
Gerade bei einer Krebsdiagnose sind Stress und Angst häufige Reaktionen. Solche Gefühle müssen aber nicht per se negativ sein. Martin Inderbitzin empfiehlt, Gefühle nicht in gut und schlecht einzuteilen: «Emotionen werte ich nicht als gut oder schlecht, sondern als angenehm oder unangenehm. Klar, jede*r bevorzugt schöne Emotionen. Aber nur weil sich etwas unangenehm anfühlt, muss es nicht unbedingt schlecht sein. Oft ist es so, dass die unangenehmen Emotionen die besseren Lehrmeister sind», weiss Inderbitzin. Unangenehme Emotionen können nämlich eine Einladung dazu sein, genauer hinzuschauen: «In anstrengenden Situationen lernt man sich meist besser kennen, sofern man sich darauf einlässt. Dies kann zu tiefen Lebenseinsichten führen.»
Auch wenn es nicht einfach ist, geht es nach einer Krebsdiagnose laut Inderbitzin zuerst darum, Emotionen anzunehmen und sich in einem zweiten Schritt auf konstruktive Art mit ihnen zu beschäftigen. Professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, kann hierbei sehr lohnend sein: «Es kann einem helfen, die Gefühle einzuordnen und die richtigen Ressourcen anzuzapfen.»
Hör auf, zu jammern!
Ein weiterer wichtiger Tipp zur Stärkung der Resilienz ist es, sich nicht fortwährend zu beklagen, so Inderbitzin: «Oft schieben wir die Schuld auf andere oder auf äussere Umstände, um unsere Emotionen abzuladen. Aber längerfristig bringt das nichts, sondern verschwendet nur Energie. Wenn wir jammern, fokussieren wir uns auf das Problem und das Negative, was Stress und Frustration verstärkt,» so Martin Inderbitzin. Er ergänzt: «Indem wir aufhören, zu jammern und Verantwortung übernehmen, verlassen wir die Opferrolle. Stattdessen überlegen wir, was wir wirklich brauchen. Das bedeutet nicht, toxisch positiv zu sein, sondern die Kontrolle über unser Leben zu übernehmen und dadurch eine neue Energie zu erfahren.»
Im Grunde genommen geht es darum, jeder Situation, so schwierig sie auch sein mag, authentisch zu begegnen und sowohl die angenehmen wie auch die unangenehmen Emotionen zuzulassen.
Perspektivenwechsel
Eine weitere Übung zur Stärkung der Resilienz, mit der Inderbitzin gute Erfahrungen gemacht hat, ist der Perspektivenwechsel: «Wenn man etwa während der Krebstherapie starke Nebenwirkungen hat, fokussiert man automatisch auf den Schmerz. Dies kann einen runterziehen. Hier kann es helfen, die Perspektive auf das Positive zu lenken. Ich selbst sagte mir, dass ich mich glücklich schätzen kann, in einem Land mit einem funktionierenden Gesundheitssystem zu leben. Nebenwirkungen habe ich, da ich Zugang zu einer Behandlung habe, was letztlich positiv ist.» Ein Perspektivenwechsel bedeutet nach Inderbitzin auch, sich zu überlegen, was man aus der eigenen Situation machen kann, anstatt daran zu denken, wieso man in dieser Situation ist.
Die Macht der Geschichten, die uns unser Gehirn erzählt
Kommen wir auf die Geschichten zurück, die uns unser Gehirn erzählt und laut Inderbitzin unsere Wahrnehmung und unser Empfinden beeinflussen. Oft lösen die Geschichten Emotionen aus, die unsere Lebensqualität bestimmen. Manche Geschichten sind konstruktiv, andere nicht. «Entscheidend ist es, sich bewusst zu machen, welche Geschichten unser Gehirn gerade erzählt und ob sie hilfreich für unsere Situation sind», so Inderbitzin. Nach der Diagnose ist der Körper immer noch der Gleiche wie vorher, die Krebszellen waren ja vorher schon da, aber das Wissen darum verändert die Gedanken. «Diese Gedanken können körperliche Reaktionen auslösen und unseren Gesamtzustand beeinflussen.» Als Beispiel dafür nennt Inderbitzin Kontrolluntersuchungen: «Wenn sie näher rücken, erzählt uns das Gehirn oft negative, hypothetische Geschichten, die emotional belastend sind. Es ist wichtig, solche Geschichten zu hinterfragen. Denn oft sind sie im negativen Sinne zukunftsorientiert. Mehr im Hier und Jetzt zu leben, kann eine Antwort darauf sein.»
Ein neuer Blick auf das Leben
Im Grunde genommen geht es darum, jeder Situation, so schwierig sie auch sein mag, authentisch zu begegnen und sowohl die angenehmen wie auch die unangenehmen Emotionen zuzulassen. «Eine Krebserkrankung gibt dir die Möglichkeit, dich nochmals fundamental mit allen Dingen auseinander zusetzen, was etwa bei einem plötzlich eintretenden Tod nicht so ist», so Inderbitzin. Die Einsicht, die Krankheit nicht nur als Schicksalsschlag zu sehen, sondern als Möglichkeit, sich und sein Leben zu verändern, ist vermutlich der Kern von Resilienz. Wem das gelingt, der kann die Herausforderung nicht nur überwinden, sondern auch gestärkt aus ihr herausgehen.
Mehr zum Thema Resilienz
Martin Inderbitzins Buch Dare to live / Mut zum Leben
Noch mehr Gedanken und Erfahrungen von Martin zum Thema Resilienz findest du in seinem Buch. Das Buch ist in deutsch und englisch erhältlich.
https://www.martininderbitzin.com/book
Podcast-Staffel "Resilienz"
Gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen sind wir in unserem Podcast in das Thema Resilienz eingetaucht und haben durch Theorie, Übungen und persönliche Geschichten gelernt, wie man die eigene Resilienz stärken kann.
Datum: 01.10.2024