Gliom Tipps Pflegefachpersonen
Hirntumor
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Trotz Gliom das eigene Leben neu entdecken

Die auf Neuroonkologie spezialisierten Pflegefachpersonen stehen Patientinnen und Patienten mit Hirntumoren während ihres gesamten Lebenswegs zur Seite und stellen Zuhören, Selbstbestimmung und Lebensqualität in den Mittelpunkt ihres Engagements.

Annalisa Cassarino und Cristina Pellet, Sie sind spezialisierte Pflegefachpersonen in der Begleitung von Patienten mit einem niedriggradigen Gliom. Worin besteht Ihre Rolle?

Annalisa Cassarino: Wir sind von Beginn an, ab der Diagnosestellung, über die erste Operation, die verschiedenen Behandlungen bis hin zur Nachsorge, Bezugspersonen des Vertrauens. Wir bieten nicht nur psychologische Unterstützung, sondern eine ganzheitliche Begleitung. Unsere Beratungen umfassen Informationen zu den Behandlungen und zum Behandlungsverlauf, zu Nebenwirkungen und zur Vorbeugung von Komplikationen sowie anderen Bedürfnissen der Patientin und ihrer Familie.

Cristina Pellet: Unsere Sprechstunden sind Begegnungsräume, die Zeit für Gespräche geben. Die Lebensgeschichte der Patienten ist wesentlich, um ihre Vorstellungen sowie das Ausmass ihrer körperlichen und psychischen Belastung zu verstehen. So können wir besser auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingehen.

 

Worin unterscheiden sich die Herausforderungen von Patientinnen mit einem niedriggradigen Gliom von anderen Krebsarten?

Pellet: Das Gehirn ist das Steuerzentrum für Bewegung, Sprache, Empfindungen, Denken und für das Erleben des Lebens. Wer an diesem Organ erkrankt, sieht sich einer sehr direkten Angst gegenüber: der Angst, die eigene Identität, die Autonomie und die Fähigkeit, aktiv am Leben teilzunehmen, zu verlieren.

Cassarino: Die Patienten sind jung, zwischen 18 und 50 Jahre alt. Viele haben kleine Kinder, einen Beruf, der sie motiviert, und Zukunftspläne. Zwar leben sie oft länger, aber häufig mit schlechter Lebensqualität und einem Gefühl des Eingesperrtseins.

 

Diese Patientinnen leben oft sehr lange mit der Krankheit – was bedeutet das?

Cassarino: Weil es aggressivere Krebsarten gibt, neigt das Umfeld dazu, das Leid zu relativieren. Die Patientinnen fühlen sich dadurch unverstanden, was ihren Umgang mit der Krankheit beeinflussen kann. Sie leiden gleichzeitig an Krebs und an einer chronischen Erkrankung, was ihre Erschöpfung noch verstärkt. Das ist, als würde man in den Krieg ziehen und wissen, dass er 20 Jahre dauern wird. Genau da setze ich an: Ich sage meinen Patienten, dass der Krieg vorbei ist – ebenso wie ihr früheres Leben. Sie haben die Chance, neu zu beginnen und ihr Leben nach ihren tiefsten Wünschen zu gestalten. Mit der Angst vor dem Tod zu leben, bedeutet, jeden Tag ein Stück zu sterben. Stattdessen lade ich sie ein, alle Siege zu feiern und wieder Akteur ihres Lebens zu werden.

Pellet: Die Krankheit erfordert eine lebenslange Betreuung. Das heisst: Warten auf Untersuchungsergebnisse, Langzeittherapien und das Leben mit der Unsicherheit über den Krankheitsverlauf. Je nach Lage und Auswirkung des Tumors kann der Patient weiterarbeiten und sein Leben führen, die Erkrankung kann aber auch kognitive Fähigkeiten beeinträchtigen oder körperliche Behinderungen verursachen.

Sie sind nicht allein und dürfen auf ihr eigenes Sein vertrauen, das voller Ressourcen und Energien steckt, von denen sie nichts ahnen.

Annalisa Cassarino

Was empfehlen Sie, um damit umzugehen?

Pellet: Eine neurologische Rehabilitation sollte so früh wie möglich beginnen. Sie hilft, die Autonomie möglichst lange zu bewahren und den Folgen einer Behinderung vorzubeugen. Ebenso wichtig sind körperliche Aktivität und soziale Kontakte.

Cassarino: Der Rehabilitationsweg kann ergänzt werden durch Achtsamkeitsmeditation, Yoga oder Hypnose. Man muss verstehen: Wenn der Körper in Bewegung ist, werden auch die psychischen und spirituellen Funktionen aktiviert. Diese Praktiken helfen den Patientinnen, den Teufelskreis und das Gefühl der Gefangenschaft zu durchbrechen.

 

Die betreuenden Angehörigen geraten von einem Tag auf den anderen in diese Rolle. Mit welchen Schwierigkeiten sind sie konfrontiert?

Cassarino: Je nach Lage des Tumors verändert sich die Persönlichkeit des Patienten. Auch die Behandlungen können das äussere Erscheinungsbild beeinflussen. Diese Veränderungen können zu Beziehungskrisen mit dem Partner oder den Kindern führen. Dazu kommt die ständige Angst, den geliebten Menschen zu verlieren oder ihn leiden zu sehen. Es handelt sich also nicht um die Krankheit des Patienten allein, sondern um eine Familienkrankheit.

Pellet: Die Rollen in Paar- und Familienstrukturen verändern sich, die Dynamik gerät ins Wanken. Je nach Schwere der Symptome kostet das viel Energie und kann sehr belastend sein. Manche isolieren sich zu Hause, um präsent zu sein, erschöpfen sich und werden selbst krank. Für viele ist es nicht einfach, loszulassen und Verantwortung zu teilen.

 

Was raten Sie ihnen, um mit dieser neuen Realität gut leben zu können?

Cassarino: Im eigenen Rollenverständnis bleiben und nicht zum Pfleger oder zur Pflegerin des Angehörigen werden. Die wichtigste Therapie ist die Kraft, die aus der Familie entsteht. Wenn ich die Angehörigen treffe, schliesse ich mit ihnen einen Vertrag: Der Partner oder das Kind soll sein Leben weiterführen, ausgehen, Spass haben und Platz für Freude schaffen. Das Leben der Angehörigen darf weitergehen – und das des Patienten ebenfalls.
Pellet: Aktivitäten pflegen, die Kraft geben, wie Sport oder gesellschaftliche Treffen, und Hilfsangebote wie die der Rotkreuz-Organisation in Anspruch nehmen. Den Schritt wagen, um Hilfe zu bitten, und akzeptieren, dass jemand anderes für einige Stunden übernimmt.

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An welche Organisationen können sich Patientinnen und ihre Angehörigen wenden, um Unterstützung zu erhalten?

Pellet: Die Krebsliga ist in der Schweiz sehr aktiv. Sie bietet eine grosse Vielfalt an Unterstützungsangeboten, darunter eine Bedarfsabklärung für Patienten und Angehörige mit individuellen Empfehlungen. In jedem Kanton gibt es engagierte Vereine, die Unterstützung leisten.

Cassarino: Im Tessin organisieren wir Informationsveranstaltungen über die Krankheit für Patientengruppen, aber auch kreative Aktivitäten wie einen Kochkurs zur Pastaherstellung oder Pop-Art-Malkurse. Allen Patientinnen ist das Bedürfnis nach Geselligkeit und Gruppenzugehörigkeit gemeinsam. Das Geheimnis dieser Gruppen lautet: «Leidenschaft statt Mitleid».

 

Welche Botschaft möchten Sie Menschen mit einem Gliom mitgeben?

Pellet: In diesem dichten Nebel, in dem der Horizont verloren scheint, ermutige ich sie, sich von ihren Angehörigen und dem medizinisch-pflegerischen Team an die Hand nehmen zu lassen, das Leben möglichst normal weiterzuführen, Träume zu haben und sie zu verwirklichen.

Cassarino: Sie sind nicht allein und dürfen auf ihr eigenes Sein vertrauen, das voller Ressourcen und Energien steckt, von denen sie nichts ahnen. Meine Patienten sind die wunderbarsten Menschen, die ich kenne – sie kämpfen für ihr Leben und ihre Familie. Das Wichtigste im Leben ist nicht die Gesundheit, sondern Selbstvertrauen und Glück.

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Servier unterstützt Leben mit Krebs und hatte keinen Einfluss auf den Inhalt dieser Artikel.

Journalistin: Stéphanie Wavre
Datum: 21.10.2025